Ambidextrie in Unternehmen

am Dienstag, 01 August 2017.

Neuerdings werden Unternehmen dringend dazu aufgefordert, Ambidextrie zu realisieren; andernfalls sei ihre Zukunftsfähigkeit bedroht. Teilhabe an Industrie 4.0 (Industrielles Internet) und IOT (Internet der Dinge, auch: Dienste und Menschen), digitaler Transformation in all ihren Facetten erforderten es, beidhändig zu führen.

Bedeutung
Ambidextrie bedeutet wörtlich: beidseitig rechts. Gemeint ist: mit beiden Händen gleichermaßen geschickt sein. Die Geschicklichkeit beider Hände verweist auf ein Sowohl-als-auch, auf die Option des Wechselns und der Pendelbewegung im Rahmen situativ bedingter Anpassungsnötigkeit.

Ambidextrie wird als Konzept und Methode angepriesen, Unternehmen (allen Organisationen) zu helfen, Bewährtes und Neues parallel zu verfolgen, um auf der Erfolgsspur zu bleiben. Zuweilen wird auch von zwei Betriebssystemen oder Unternehmen mit zwei Geschwindigkeiten gesprochen: dem traditionellen, vermeintlich eher langsamen und gründlichen, und dem progressiven, eher agilen, experimentellen, schnellen System; dem auf „Weiter so“ und dem auf „Neuartig“ bezogenen.

Ambidextrie betrifft sowohl Führung als auch Geschäftsmodelle und wird durch parallele Strukturen, Prozesse, Kulturen ebenso realisiert wie durch kontextbezogenes, situatives Wechseln (Pendelbewegung), das auch Synergiepotenziale erschließt.

Ist Ambidextrie etwas grundlegend Neues? Nein und Ja.

Nein insofern, als Unternehmen, deren Horizont über kurzfristigen Erfolg hinausweist, neben dem laufenden Geschäft immer schon nach Chancen und Optionen Ausschau halten, auf veränderten Pfaden zu wandern (veränderte Grundlogik in Strukturen, Prozessen etc.) und mit etwas Neuem neue Märkte zu erschließen (neuartige Geschäftsbereiche, -modelle). Hand in Hand damit geht seither, je nach Ausmaß qualitativer Veränderung, Wandel in den innerbetrieblichen Strukturen, Prozessen, in Kultur und Führung einher.

Ja, insofern, als das, was vielen Akteuren in Zeiten digitaler Transformation und globaler Vernetzung als dramatisch neuartig erscheint, zwar nicht die Grundüberlegung, Basislogik oder das Paradigma betrifft, jedoch immerhin die technische Herausforderung mit ihren Implikationen und Folgewirkungen bezüglich Infrastruktur, Kooperationskultur in- und extern, Strukturen, Prozeduren bis zu Führung und Zusammenarbeit. Das Neuartige verbirgt sich in Digitalisierung, Automatisierung, mit ihrer zunehmende Einbindung von KI und EI, im Agieren selbstlernender vernetzter Systeme, die mittelfristig eine grundlegend andersartige Praxis von Organisation (Planung, Führung, Zusammenarbeit) und dem Organisieren von Organisation (bzw. Organisieren) erzeugt. Beides, das Arbeiten im und dasjenige am System überziehen über kurz oder lang das gesamte Unternehmen.

Ambidextre Unternehmen fahren zweispurig.
Sie setzen mit dem Ziel der Zukunftssicherung durch Selbsterneuerung (Adaptivität, Agilität) parallel auf zwei Strategien mit den jeweils passenden organisationalen und kulturellen Routinen. Das eine Ziel richtet sich darauf, lukratives Geschäft am Laufen zu halten, gegebenenfalls zu optimieren; das andere darauf, innovativ zu sein, neue Geschäftsfelder und -modelle zu erschließen. Als Messlatte werden häufig Kundenanforderungen hochgehalten: Sind diese planbar, strukturiert, erwartbar, zuverlässig gleichbleibend, oder sind sie unerwartbar, ungeordnet/ spontan/ modisch, variabel? Beides gilt, wenn auch in verschiedenartigen Kontexten und Zielhorizonten: Sowohl „weiter wie bisher“ (unter Nutzung von Optimierungspotenzial) als auch „neu, anders als bisher“ (Nutzen von Innovationspotenzial).

Ambidextres Führen wird seit vielen Jahren praktiziert, indem traditionelles, auf Hierarchien und Stabilität ausgerichtetes Führen selektiv einem Führen mit flachen bis gar keinen offiziellen Hierarchien und partizipativen Optionen weicht; indem Zentralität zu Gunsten dezentraler, vernetzter Kooperation abgebaut wird u.dgl. (wird seit den späten 1960ern viel beschrieben).

Der Wandel hin zu einer demokratisierten, auf Beteiligung und nicht nur bereichs-, sondern unternehmensüberschreitende Zusammenarbeit ist durch die so genannte Digitale Transformation beschleunigt (nicht begründet) und erscheint als neuartig, weil das temporäre Kollaborieren mit internen und externen kleinen Geschäftseinheiten (z.B. Start-ups, Projektteams) rasant zugenommen hat und dadurch in das Blickfeld Vieler gerutscht ist. (Nebenbei: Auch Berater müssen leben…..)

Ambidextrie auf der Ebene von Geschäftsmodellen zeigt sich – illustrativ gesprochen – typischerweise so: Ein Unternehmen betreibt sein erfolgreiches Geschäft profitabel weiter und kanalisiert parallel Neues. Etwa bietet es weiterhin konventionelle Autos zum Verkauf und bahnt parallel dazu systematisch Innovatives an. Beispielsweise erweitert es seine Unternehmensidentität von „Automobilanbieter“ zum Anbieter von „Mobilität schlechthin“ und präsentiert auf Sharing-Portalen verschiedene Services und wird zum „Player“ in der Entwicklung, Produktion, in Verkauf bzw. Vermietung autonomer Fahrzeuge. Die gerade von Siemens auf der Hannover Messe präsentierte erstmalige vollständige Simulation einer Wertschöpfungskette erlaubt einen Einblick in ein gewünschtes Fazit ambidextren Führens. Denn nur ein Teil von Siemensianern hat sich dem Innovativen gewidmet, während ein anderer Teil dafür sorgte, lukratives Business am Laufen zu halten. Die präsentierte Simulation erfasst den Lebenszyklus eines Produkts, von der Entwicklung über Herstellung, Vertrieb, Nutzung beim Kunden und speist dessen Feedback wiederum in die (Weiter-) Entwicklung des Produkts ein. Dieser Gewinn wird sich im Konzern ausweiten, indem das System weitere Geschäftsbereiche absorbiert.

Sofern sich die innovativen Sektoren von den traditionellen trennen lassen, fährt das Unternehmen strikt zweigleisig. Ambidextre Unternehmen bauen zunächst in ausgewählten Bereichen gemäß anvisierter neuartiger Kooperations-, Geschäftsmodelle um. Davon betroffen sind neben der informationstechnologischen Infrastruktur Organisation & Prozesse, Führung & Kooperation, Kultur. Soll die digitale Transformation mittelfristig das gesamte Unternehmen verwandeln, wird die IT-Infrastruktur folglich so gestaltet, dass sie anschluss-, ausbaufähig ist für zukünftig wahrscheinliche Optionen (Ausstattung mit Sensoren, Schnittstellen für Datenverknüpfung bis hin zur Nutzung von KI und EI, kollaborativer Robotik etc..).

Kooperationshabitus
Ambidextre Unternehmensführung betrifft u.a. die Kooperationsadressaten und –praxis. Im „alten“ Geschäft dominieren Partnerschaften, die unmittelbaren Bezug zum Produkt oder Service, zu dem halten, was man kennt. Um Möglichkeiten für „ganz andere“ Angebote im neuen Raum auszuloten, anzubahnen und schließlich zu nutzen, wird der Kreis möglicher Partner vielfältiger.

Die Partner sind breit gestreut: Konkurrenten, ITK- Unternehmen, Plattform-Anbieter (interne/ externe, geschlossene/ offene), Akteure im Bereich nichtwirtschaftlicher Organisationen wie Universitäten/ Hochschulen/ Akademien, Forschungsorganisationen, Ministerien.

Diese Vielfalt von Partnerschaften verweist darauf, dass nicht der rasche ROI im Vordergrund steht, sondern das Anbahnen und Entwickeln von Geschäftsmodellen, die zukünftigen nachhaltigen Erfolg verheißen, vor allem durch technisch basierte Anschlussfähigkeit.

Damit wandeln sich auch Modi und Ansprüche in/an Partnerschaften. Für die Offenheit unternehmensüberschreitender Beteiligungen an Netzwerken, Plattformen bis hin zu Pilotprojekten stehen exemplarisch etwa die Smart Factory in Kaiserslautern, die KMU-Plattform OWL (inkl. F&E-Organisationen) oder das neu gegründete Cyberlab in Baden-Württemberg. Zwei Trends stehen im Vordergrund: Plattformen* und Arbeit mit *innovativen Inseln/ kleinen Geschäftseinheiten. (* siehe unten: Plattform-Wirtschaft, Innovative Inseln.)

Beide Vorgehensweisen bedürfen beidhändiger Führung; in beiden Varianten bedarf es des Sowohl-Als-auchs: sowohl lukratives Geschäft weiterhin verfolgen, als auch Neuartiges probieren und Zukunftsfähiges zusammen- bzw. überführen. Beides dient dem Fortbestand des Unternehmens, das sich gleichsam rhizomatisch entwickelt: Altes wird allmählich verändert oder aufgegeben, während gleichzeitig Neues entsteht und beides aufeinander verwiesen bleibt. Das Neue baut auf Altem auf; dieses ermöglicht jenes erst.

Ambidextrie starten
Am Beginn des Nachdenkens darüber, ob, inwiefern, wozu und wie das eigene Unternehmen Schritte zu ambidextrer Unternehmensführung gehen soll, steht eine Diagnose des Status Quo: in Bezug auf IT, auf existente und perspektivisch aus- oder aufzubauende Geschäftsfelder und –modelle und auf Führung/ Kultur.

Was im Hintergrund stets mitläuft, ist die Frage nach der Abhängigkeit der Geschäftsfelder und -modelle von Erfolgsbedingungen, die identifiziert und ausbuchstabiert werden müssen. Hier gilt es, intern und extern zu schauen.

Intern stehen Technik/ Technologie, Kompetenzen/ Qualifikationen, Strukturen und Prozesse, innerbetriebliche Facetten von Infrastruktur bis Kultur, Produkte, Services und Partnerschaften zur Diskussion. Extern sind Bewegungen im Umfeld zu betrachten. Neben Marktrends, Nachfragebedürfnissen, Modeströmungen müssen Entwicklungen in relevanten Bereichen wie technologische Neuerungen, Recht, politisch-ökonomische Perspektiven, Ressourcen, Finanzströme, Börsentrends in den Blick geraten.

In systematisierten Austausch-, Debatten-, Erkenntnisrunden sollten Fragen behandelt wie:

Historie und Standortbestimmung (Wie wurde das Unternehmen das, was es jetzt ist?); Vision und Ziele (Wohin will sich Unternehmen aus welchen Gründen entwickeln?) und seine Einbettung in bedeutsame Trends (An welche (Mega-) Trends, Moden, Besonderheiten u.dgl. kann das Unternehmen anknüpfen? Wo will es ausgezeichnete, originelle Leistungen erbringen (USP, Nischen)? Was ist nötig, um Chancen in Optionen zu erkennen und in Erfolg zu verwandeln?

Ähnlich gefragt: Wo stehen wir innerhalb welchen Umfelds? Wohin und was genau wollen wir aus welchen Gründen? Welche Indizien sprechen für welche Zukunftsaufstellung, welche dagegen, und wie sind die Gründe im Rahmen der Unternehmensaktivität zu gewichten? Mit welchen förderlichen Faktoren können wir rechnen? Mit welchem Gegenwind? Was benötigen wir für unsere Zukunftsfähigkeit? – Diese und ähnliche Fragen verbinden strategische mit operativen Optionen mit Blick auf Zukunft.

Überlegungen solcher Art geben Aufschluss darüber, ob und wo inwiefern es zielführend ist, beidhändig zu verfahren, sowie darüber, welche Anforderungen erfüllt werden müssen, um das Parallellaufen zu ermöglichen.

Das Themenfeld ist breit. Abgedeckt sein müssen sowohl Aspekte der Informationstechnologie: Daten (von Generierung über Sammlung und Auswertung bis Sicherheit und Datenhoheit), Automatisierung, Schnittstellen, Vernetzung inner- und außerhalb des Unternehmens, Cloud-Ökonomie etc.; ferner Fragen nach dem Auftritt des Unternehmens, z.B.: Plattform (eigene, Mitgliedschaft auf offenen, geschlossenen, in-, externen, Mitmachen bei Aggregatoren etc.).

Auch die Fragen zu Führung und Organisationsmodi (z.B. hierarchisch/demokratisch, zentral/dezentral, Freiheitsgrade) stellt sich, etwa: welche Führungsmethode unter welchen Voraussetzungen? Wie Qualifizierung von wem zu/für was sichern? Wie Weiterbildung inhaltlich, methodisch, medial aufbereiten, anbieten, vermitteln? Welche Arbeits“gadgets“ nach welcher Philosophie wo im Unternehmen (etwa: überall Bring your own device? Oder, wie neuerdings bei der Bahn, Verschenken von Tablets zur privaten und beruflichen Nutzung?) sowie Fragen nach gewünschten Insel- oder Subkulturen im Verhältnis zur Dachkultur.

Wegentscheidend und trotz besseren Wissens oft vernachlässig sind Entscheidungen zur kulturellen Verfasstheit. Unter der Voraussetzung, dass sich Subkulturen der Dachkultur subsumieren lassen sollen (Sinn-, Orientierungsgefüge), also ein Passungs-, Ableitungs-, Konsensverhältnis besteht: Welche Eckpunkte, Leitlinien empfehlen sich als Dachkultur, die den Toleranzrahmen für die Subkulturen vorgeben? Welche Mechanismen sorgen dafür, dass sich die Subkulturen nicht gegenseitig behindern, im Idealfall wechselseitig fördern? Wie sind Rückkopplungen zwischen Sub- und Dachkultur zu organisieren, damit das Gesamtsystem (Unternehmen) kulturell profitiert (Adaptivität, Selbsterneuerung/entwicklung)?

Zusammenfassend: Wo braucht es aus welchen Gründen bzw. mit welcher Zielsetzung eher statische, festgelegte, zentral oder hierarchisch bestimmte Strukturen und Prozesse, und wo fluide, flexible, partizipative bis kollektiv selbstbestimmte im Rahmen agilen Arbeitens? In welchen Feldern führen autoritative Stile eher zum Ziel als demokratische, und wo verhält es sich umgekehrt? Welche Führungsmodelle oder –konzepte im Rahmen von New Work können wo mit welchen Absichten probiert werden? Welche Ressourcen, Freiräume und Grenzen, welche personalen und kollektiven Fähig- und Fertigkeiten benötigt das „old business“ im Vergleich zum „new business“? Wie müssen Führung und Mitarbeit, Kooperation, Prozesse und Strukturen, also Organisations-, Personalentwicklung und Weiterbildung darauf abgestimmt werden?

Fazit
Standortbestimmung, Möglichkeitsabschätzung, Zukunftsperspektive und entsprechende Aktivitäten orientieren sich im ambidextren Denken an den Bedingungen der Möglichkeit, sowohl Probates zu nutzen als auch Neues zu probieren und das berühmte Arbeiten am Schiff während der Fahrt zu realisieren.

Plakativ gesprochen: Dort, wo keine Innovationen nötig sind und man sich auf das Optimieren von Bestehendem beschränken kann, kann mit Bewährtem weiter gearbeitet werden. Dort, wo Innovationen angestrebt werden, braucht es neue Strukturen und Prozesse, neue Umgangsformen und Qualifikationen. Dort, wo sich tradierte und neue Geschäftsfelder/-modelle überlappen oder tangieren, muss untersucht werden, welcher Stellenwert diesen Berührungen zukommt – und wie ihre Synergie gewährleistet werden kann.

Grundsätzlich bedarf es vielfältiger Vorkehrungen, um das Sowohl-Als-auch verwirklichen zu können. Ambidextre Unternehmen kommen nicht umhin, dafür zu sorgen, hochgradig an- und einpassungsfähig zu sein und kontext-, situations-, zielabhängig zwischen den beiden Modi (traditional, innovativ) wechseln zu können. Unternehmen erhöhen die Erfolgswahrscheinlichkeit dazu, indem die Führung ein Augenmerk auf die Fähigkeit legt, dass sich das Unternehmen laufend selbst weiterentwickelt.

In ambidextren Unternehmen läuft die Frage nach Funktionalität, Nützlichkeit, Utilität immer mit: Was an Tradiertem belassen wir (zunächst) warum? Wo weichen wir warum davon ab bzw. fördern Abweichungen, Störungen, Experimente? Beidhändig operierende Unternehmen bewegen sich im Spannungsfeld von Regelbefolgung und Abweichungsfreiheit, Zentralität und Dezentralität, Routine und Agilität, Ordnung und Unordnung, Berechenbarkeit und Überraschung.

Ambidextrie ist keine Zauberei, sondern betont eine Fertigkeit, die zur DNA von Unternehmensführung gehört: Das eine tun, ohne das andere zu lassen, nämlich: die Cashcow nähren und melken, solange der ROI lohnt, und gleichzeitig sich umschauen nach Chancen, Neugeschäft, neuartigen Modellen mit neuen Kooperationen und Aktionen, zu generieren und dies parallel zum Altgeschäft aufgleisen.

*Plattform-Wirtschaft & Beispiele ambidextren Führens
Seit Jahren wird über Entwicklungen in der Plattform-Wirtschaft täglich berichtet. Einen aktuellen Einblick gewährt der Artikel von Georg Giersberg (Die Stunde der Plattformen. In: FAZ, Beilage Die 100 Größten. 5.7.2017). Gegenwärtig werden circa 1000 Plattformen entwickelt. Sie sind Bedingung der Möglichkeit für unternehmerischen Erfolg; denn innovative Geschäftsmodelle gründen auf der Auswertung von verteilt generierten Daten – und das funktioniert nur über IT-Plattformen. Gleichzeitig wird mit Blick auf Aufwand und Kosten (z.B. Datensammlung, -aggregation, Tools für Verarbeitung, Analyse, Auswertung, Datensicherheit, -hoheit) spekuliert, dass nur ein Bruchteil davon überleben wird. Denn lukrativ wird eine Plattform durch die Anzahl ihrer Schnittstellen oder Vernetzungsknoten (Nutzer, registrierte Geräte) – und folglich kommt es auf Größe nach Maßgabe von Big Data an.

Hier wirkt der Skalierungseffekt: Je mehr Nutzer eine Plattform hat, desto mehr Daten werden gesammelt und ausgewertet, was wiederum die Plattform um Angebote bereichert und mehr Nutzer anzieht. Das ist von Konsumentenplattformen sattsam bekannt und u.a. von Jaron Larnier mit der von „Sirenenservern“ problematisiert. Der Netzwerkeffekt verstärkt eine Ausleselogik, die rein quantitativ vorgeht (viele User, viele Schnittstellen etc.) und als Zugangsbarriere für weitere, kleinere Plattformen wirkt; daher die Rede von einer oligopolistischen Marktmacht oder immanenten Monopollogik. Analog zum Konsumentenbereich gewinnen im Industriebereich jene Plattformenanbieter, die einen hohen Anteil eigener Anlagen beim Kunden platzieren können; denn dann gewinnen sie ohne Fremdhilfe große Datenmengen und können diese breit zur Verfügung stellen. Große Datenmengen sind nötig, um Big-Data-Lösungen oder solche mittels KI & EI (selbstlernende, „empathische“ Systeme) anbieten zu können. Man kennt das von Amazon: Je breiter das Angebot, desto mehr Nutzer, desto mehr Daten, desto eher Smart Data-Lösungen; und mit diesen Zunahmen wächst die Chance, das Angebot zu erweitern – und so zirkulär bzw. spiralig weiter. Mit der Anzahl der Nutzer und der Vielfalt der Services wächst die Attraktivität. Rasch nachvollziehbar auch an der neueren Entwicklung von Sharing-Plattformen, ob Uber, Aibnb oder Mobile. Neben Sharing-Diensten haben die Plattformen anders gelagerte Angebote im Portfolio, etwa Versicherungsleistungen, Reinigungspersonal, Stadtführer.

Plattformen fungieren integrativ: Sie aggregieren und verarbeiten jene Daten, die von vernetzten Produkten stammen, bereiten diese für Serviceplattformen vor und machen die Dienste somit sichtbar für Kunden und Interessenten. Georg Giersberg bietet die Metapher des Marktplatzes auch hier: Wie bei Konsumentenplattformen ähnelt eine Plattform einem virtuellen Markt, auf dem sich Aussteller (Anbieter) präsentieren. Da große Unternehmen wie Siemens eigene Plattformen betreiben, treten sie in zwei Rollen auf: als Betreiber eines Marktplatzes und als Aussteller. Im Bereich großer Konzerne nennt der Journalist die Deutsche Telekom, Trumpf, Siemens, SAP, Bosch, MAN, General Electric, Microsoft hervor; im Bereich KMU die Internetplattform Device Insight aus München, die von großen Mittelständlern wie Kärcher oder Viessmann genutzt wird.

Von einem aktuellen, noch kaum bekannten Beispiel für eine branchenspezifische Plattform im Bereich der KMU berichtet Uwe Marx: von „Tapio“ der Firma Homag („Holzmaschinenhersteller aus Schwarzwalt bietet Plattform für ganze Branche.“ In: FAZ, Beilage Die 100 Größten. 5.7.2017). Homag, ein 2014 vom Maschinenbauer Dürr übernommener international tätiger Holzmaschinenhersteller aus Schopfloch im Schwarzwald mit finnischer Leitung, gehört zum Kreis der hidden champions. Das Unternehmen fertigt industriell Möbel, ein Drittel davon global und will durch seine Plattform „Tapio“ allen Akteuren in der gesamten Branche, kleinen wie großen, die Möglichkeit einräumen, neue Geschäftsbereiche, -modelle und Lösungen zu finden.

Dies via Big Data & Cloud. Die 150 Softwareentwickler von Homag entwickelten in Kooperation mit externen Partnern wie Microsoft, Software AG aus Darmstadt eine Plattform, die die komplette Wertschöpfungskette der Holzindustrie digital abbilden soll. Tapio ist ansteuerbar von allen Endgeräten: Tablet, Smartphone, Smartwatch, PC. Die Plattform soll dabei unterstützen, dank vernetzter Produktion, Wartung, Früherkennungssystem für Ressourcen- und Reparaturbedarf, vorausschauende Planung also, rasch und beweglich auf Entwicklungen am Markt und Anforderungen von Kunden zu reagieren.

Tapio strebt Agilität/ Anpassungsfähigkeit sowie Effizienz und Effektivität an, dank Vernetzung und Automatisierung. Dafür erhält jedes Werkstück einen Barcode, seine nachverfolgbare Identität, die mit anderen „kommuniziert“ und „interagiert“-Auf diese Weise wird eine permanente Kontrolle gewährleistet („Monitoring“), die ein frühestzeitiges Reagieren ermöglicht. Wie alle, die mit Big Data arbeiten, muss Tapio Datenhoheit und -sicherheit garantieren. Dafür ist Tapio bei dem Konsortialführer „Iuno. Luno ist ein an der TU Darmstadt angesiedeltes nationales Referenzprojekt für IT-Sicherheit in der Industrie 4.0.

Die Branchenplattform Tapio kann als Exempel ambidextrer Führung dienen. Um die Vision einer Branchenplattform zu realisieren, investierte Homag in die digitale Infrastruktur, Anwerbung von IT-Experten und Qualifizierung. Man darf annehmen, dass jene, die an Tapio mitgearbeitet haben, parallel zur „Stammbelegschaft“ an der innovativen Idee in einem besonderen Umfeld (Kooperation mit Externen speziellen Kalibers) und mit besonderen Freiräumen arbeiten konnten. Denn ohne eine erhöhte Fehler-, Irrtums-, Reibungsverlusttoleranz als im Kern-, Altgeschäft, ohne fluide Strukturen bzw. flache Hierarchien und Expertenautorität, um nur zwei Beispiele zu nennen, kann ein solches Unterfangen nicht gelingen.

Ein weiteres aktuelles Beispiel, das den Ausfluss ambidextrer Unternehmensführung zeigt, skizziert im Bereich der KMU Helmut Bünder (Die Digitalisierung erreicht die Gießereien. In: FAZ 12.7.2017, S. 21) auf dem Feld von Gießereien und Schmieden. Auch hier zieht Digitalisierung ein, die Abläufe mit Hilfe von Technologien wie dem 3D-Druck-Verfahren verändert, etwa in der von Formelementen oder im Einkauf von Lieferanten, die mit additiven Verfahren arbeiten wie Sandprinter und Simulationsprogramme einsetzen (z.B. Simulieren von Materialverhalten). Die Vernetzung mit Kunden bereits in der Produktentwicklung wird mit virtuellen Chaträumen inszeniert, um Kundenvorstellungen zu erfahren und virtuell, mittels 3-D-Modellen zu entwerfen. Komplette Datensätze fungieren als Material für Maschinen, die erste Modelle herstellen, aus denen die Gussformen entwickelt werden; in einem späteren Arbeitsschritt wird optisch gescannt und Geometrie beglichen, was Material und Kosten spart und durchgängige Qualitätskontrolle ermöglicht. Die enge digitale Verzahnung mit Kunden dient zudem der Kapazitätsauslastung, indem Unternehmen über Branchenplattformen erfahren, wer wann was geliefert haben will, worauf sich die Produktion einstellen kann.

Zusatzbemerkung: Die nahe Zukunft der Plattform-Wirtschaft wird vermutlich, so laut Georg Giersberg (s.o.) Frank Riemensperger, Vorsitzender der deutschen Geschäftsführung der Beratungsgesellschaft Accenture, zwei bis drei Plattformen pro Branche (z.B. Logistik, Maschinenbau, Lebensmittelindustrie) etablieren. Eine Plattform über alle Industriebranchen hinweg sei eher unwahrscheinlich, da die Werkzeuge zu unterschiedlich seien, die die Branchen zur Auswertung ihrer Daten benötigten. Im Kontext der Plattformwirtschaft wird häufig von Ecosystemen gesprochen, die auf beide Varianten bezogen ist: Das Bündeln sämtlicher Akteure einer Branche und das Bündeln der Akteure eines geographischen Raums. Angestrebt werden solle ein deutsches bzw. ein europäisches Ecosystem.

Das Beispiel der Gießereien von Helmut Bünder illustriert, warum es nicht möglich ist, über Branchen hinweg eine Plattform anzubieten. Wenn Gießereien als nächsten Schritt in die Welt des Industriellen Internets anvisieren, RFID-Technik einzusetzen, benötigen sie eine spezielle Ummantelung: „RFID-Transponder, die dank besonders hitzebeständiger Ummantelung direkt in die Gussteile eingebracht werden. Geschützt vor Verschmutzung und Verlust stellen die kleinen Datenspeicher die Verbindung zur Außenwelt her.“ (Diese Technik ermöglicht etwa die Rückverfolgbarkeit der Produkte und Schutz vor Fälschungen; in Logistik und Fertigung eröffnen sich neue Möglichkeiten, wenn mit Transpondern ausgestattete Komponenten mit Verladeeinrichtungen und Maschinen kommunizieren können.)

*Innovative Inseln & Beispiele ambidextren Führens
Um Innovationschancen zu erkennen und schnell zu bedienen, arbeiten Unternehmen extensiv mit Start-ups/ Unicorns/ jungen Unternehmen bzw. in- und externen Spezialistenteams zusammen, deren Auftrag „Innovation“ lautet.

Die Kooperationen weisen unterschiedliche Kopplungsgrade auf, von locker bis eng. Es gibt Unternehmen, die mit Partnern zeitlich oder projektspezifisch begrenzt arbeiten und nicht an näher an das Unternehmen binden (keine Integration, keine Inklusion). Verbreitet ist die Zusammenarbeit mit innovativen Einheiten in zwei Varianten: als örtlich ausgelagerte Teams, die indes zum Gesamtunternehmen gehören, mit viel Freiraum ausgestattet sind und insofern an der „längeren“ Leine geführt werden; hier wird Selbstorganisation in der Auftragserfüllung groß geschrieben (Teilintegration). Die andere Variante ist die vollintegrative: Innovative Einheiten bilden Inseln, die im Hauptunternehmen präsent sind und dennoch ihre eigene Kultur leben können. Die inklusive Variante wurde vielfach probiert, scheiterte hingegen häufig: Sie platziert innovative Teams mitten in alte Strukturen, oft in Personalunion. Person A ist also sowohl im Innovationsteam als auch Mitarbeiter einer normalen Abteilung oder eines Routineprojekts.

Beidhändig geführte Unternehmen stehen nicht allein vor einer technisch oder technologisch umfassenden Herausforderung, sondern auch unternehmenskulturell. Denn keineswegs ist garantiert, dass die „traditionelle“ Belegschaft den Freiraum der Innovativen mit deren „Narrenfreiheit“ goutiert. Untersuchungen zeigen, dass Spannungen und Konflikte zu beidseitiger Behinderung und abnehmender Leistung führen. Unternehmen, die beidhändig verfahren, stehen in diesem Zusammenhang vor der Aufgabe, die unterschiedlichen Subkulturen so zu arrangieren, dass sie sich in die gemeinsame „Dachkultur“ einfügen und deshalb Verschiedenheit (Differenzierung, Distinguierung, Andersartigkeit) respektiert wird. Führung muss hier ermöglichen, dass „beide Hände“ geschickt a) gemäß der Unternehmensziele, b) allein/ auftragsspezifisch und c) wo immer möglich, synergetisch arbeiten können, zumindest, sich nicht gegenseitig stören.

Das alles verändert die Identität von Unternehmen (Corporate Identity). Einige Beispiele zur Illustration: Der Wandel vom Autozulieferer Bosch zum Anbieter von „Mobility Solutions“, etwa im Bereich Elektroantrieb, wo Bosch Teile anbietet, die auch für andere Zwecke eingesetzt werden können; oder Geschäftsmodelle wie flexible Mietsysteme von Fahrzeugen aller Art. Bosch ist Mitspieler auf dem Feld autonomen Fahrens, etwa durch die anvisierte serienmäßige Lieferung eines selbstlernenden Autocomputers. All dies wird parallel zum traditionellen Geschäft aufgebaut.

In dem Aufsatz „Steile Lernkurve“ stellen Dieter Duerand, Lothar Schnitzler und Michael Kroker weitere neuere KMU vor, die frühzeitig innovative Geschäftsmodelle neben dem „Business as usual“ anbahnten (WirtschaftsWoche 30/21.7.2017, 62-64). Der Familienkonzern Voith, Hersteller von Papiermaschinen, Wasserkraftturbinen und Antriebstechnik, soll zu einem Digitalunternehmen im Maschinenbau umgebaut werden. Parallel zur Restrukturierung, die mit einem massiven Abbau von Arbeitsplätzen einherging, gründete das Unternehmen die Einheit „Digital Solutions“ mit gegenwärtig etwa 1500 Mitarbeitern. In diesem Jahr startete das Unternehmen ein Internetportal merQbiz, dessen Funktion darin liegt, Papierfabriken und Altpapierbesitzer zusammenbringen, analog zu Portalen wie Uber oder Aibnb; Voith verdient daran über die Vermittlungsprovision und macht sich damit unabhängiger vom reinen Materialgeschäft.

Erwähnenswert ist auch das Unternehmen Kaeser, Kompressorenhersteller mit Sitz in Coburg und gut fünfeinhalbtausend Mitarbeitern. Nach mehreren Neuanfängen begann das Unternehmen bereits Ende der 199oer Jahre damit, sich auf das Industrielle Internet vorzubereiten. Dies dadurch, dass die Anlagen mit Computern, Speichern und Schnittstellen zu anderen Technologien ausgestattet wurden. Diese Schritte zu Industrie 4.0 eröffneten zudem eine neue Geschäftsidee, die der Thomas Kaeser bereits in den 1980er Jahren hatte: „Er stellte in den Betrieben seiner Kundschaft die Kompressoren selbst zur Verfügung und rechnete nur die verbrauchte Druckluft ab.“ Das bedeutete nicht nur geringe Kosten für die Kunden, sondern eine stetige Einnahmequelle für Kaeser. Weitere Neuerungen sind in Vorbereitung: das Aufbauen einer „sich weitgehend selbst steuernden Fertigung, mit fahrerlosen Transportsystemen, Monitoren an jedem Montageplatz, die jedem Arbeiter die nötigen Handgriffe zeigen – angepasst an die jeweiligen Fertigkeiten (Spiegel s.o., S. 64).

Weitere Beispiele für ambidextre Unternehmensführung finden sich reichlich: Wandel von Verlagen als Printlieferanten zu „Medienunternehmen“ oder Firmen in der Finanz-, Versicherungs-, Rechtsbranche, die sich sowohl auf dem tradierten Markt engagieren als auch in den Bereichen Fintech, Robo Advisor/ Anlageroboter, Legal Tech, Insurtechs und mit weiteren digitalen Angeboten aufwarten (neueste Entwicklung im Finanzbereich ist die der selektiven Kooperation, vgl. „Banken zähmen die Fintechs“ in: FAZ 20.7.2017, S. 29).

Im Produktionsbereich macht neuerdings die Diehl-Gruppe von sich reden. Sie ist eine Nürnberger Industriegruppe im Familienbesitz, Zulieferer für Flugzeug-, auto-, Elektro-, Rüstungsindustrie. Die Gruppe gründete 2016 einen Fonds für junge Unternehmen (Start-ups), mit Rocket Home als erster Beteiligung, einem Software-Entwickler für Energiemanagement. Diese und ähnliche Modi der Zusammenarbeit mit Einheiten, deren Kernaufgabe es ist, innovative Ideen zu produzieren, die vermarktbar sind – parallel zum Routine-Geschäft - ist inzwischen sehr verbreitet, sowohl in Konzernen als auch – wachsend – in KMU. Ein beeindruckendes Beispiel aus dem Sektor der Energieversorger skizziert Dirk Böttcher anhand von EnBW (Noch mal von vorn. in: Brand ein 08/17, S. 60-65).

Dr. Regina Mahlmann
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