Empathie ist kein Passepartout

am Montag, 12 Juni 2017.

Abstract: Wer gegenwärtig von Empathie spricht, spricht von Einfühlung. Gemeint ist das Sich-in-den-anderen-hineinfühlen. Dies gilt den Anhängern als Garant dafür, harmonische, konsensuelle Verständigung, Verstehen und „gerechtes Handeln“ zu ermöglichen. Das ist aus mehreren Gründen unhaltbar. Stattdessen empfiehlt sich, Empathie als einen Zugang unter anderen möglichen Zugängen zu betrachten, als ein Fenster oder einen Weg zur Welt des Gegenübers oder des Anderen. Um ihr Potenzial als Verstehensförderin einzufahren, bedarf Empathie der Verbindung mit distanzierender und differenzierender Rationalität.

Empathie ist kein Passepartout
Empathie als Sich-Einfühlen ist kein Allzweckschlüssel zur bzw. in die Welt des Gegenübers, schon gar nicht, wenn diese Welt unvertraut, gar gänzlich fremd ist. Wie soll man sich einfühlen können in etwas Unbekanntes, Ungekanntes?

Faktisch basiert Empathie auf einer Imagination, die ihren Ausgangspunkt im empathisierenden Subjekt findet. Diese Imagination wandelt sich in eine Annahme über das Fühlen des Anderen, konstruiert diese Projektion als Identifikation und wird auf diese Weise zum Maßstab für so genanntes Du-orientiertes Handeln.

Diesem Prozess und Sachverhalt entspringen wesentliche Kritiken an Empathie als Ethos, Referenz und Norm sowie als Ermöglicherin und Garantin für (ein)verständiges, moralisch korrektes, verständnisvolles Handeln.

Es hat ungefähr vier Jahrzehnte gebraucht, eine der Hauptbotschaften des Psychobooms in Frage zu stellen. Zwar noch zögerlich und ausnahmsweise. Aber immerhin. Die seit den 1960er Jahren wirkende Psychologisierung, Emotionalisierung und Moralisierung der Lebens- und Arbeitswelt zelebriert Gefühl als Medium für Wahrheit, Wahrhaftigkeit, Authentizität und Gerechtigkeit und wird gehandelt als Bedingung der Möglichkeit, Zugang zum Gegenüber zu erhalten - konstruiert in der Psychologik der Identifikation.

Es sind aktuell vor allem wissenschaftlich begründete Erkundungen, die den Dauerflirt stören. Allmählich spricht sich die im Grund banale Erkenntnis herum, dass Empathie sich weder eignet, im Mikro-, Meso-, Makrobereich verantwortungsvoll zu interagieren und zu kooperieren, noch dazu, demokratisch-gesellschaftliches Leben zu ermöglichen.

Weder empfiehlt sich die individualistische Konzeption von Empathie als Sich-Einfühlen, noch die ihr innewohnende Willkürlichkeit, mit der jemand empathisch sein kann oder nicht (Empathie als Gnadenakt), noch spricht für empathisch basierte Entscheidungen die Leistung, die Empathie erbringen kann.

Systematisiert kann man drei Aspekte kritisch betrachten. Erstens: Empathie ähnelt einem Zirkelschluss, ist ein selbstbezügliches Tun insofern, als sie auf die Gefühls- und Vorstellungswelt des empathisierenden Subjekts verwiesen ist. wirkt daher insofern usurpatorisch, als die je eigene Gefühlswelt zur Referenz wird. Parteilichkeit ist damit zwangsläufig. Zweitens: Empathie als Einfühlung ist (psycho-) logisch eingeschränkt auf nicht komplett Fremdes, auf zumindest teilweise Vertrautes und benötigt Bekanntes als Bedingung ihrer Möglichkeit. Drittens: Die Leistung von Empathie beschränkt sich bestenfalls darauf, ein Fenster zu öffnen zum Anderen, dazu zu inspirieren oder motivieren, die eigene Fühlweise bzw. Fühlwelt zu verlassen und sich einer anderen zu nähern.

Was meint Empathie?
Begriff und Idee der Einfühlung entspringen psychologischen und philosophischen Reflexionen zum ästhetischen Empfinden 18. Jahrhundert. Während Philosophen das absichtslose Betrachten und sensorische Wahrnehmen betonen, konzipiert der deutsche Philosoph und Psychologe Theodor Lipps (1851-1914) Empathie als Handlung. Lipps wird zugeschrieben, das Verständnis von Einfühlung als die Bedingung der Möglichkeit ästhetischen Empfindens einem breiteren Publikum bekannt gemacht zu haben. Demnach ist Einfühlung bzw. Sich-Einfühlen ein individualpsychologischer Vorgang. Empathie wird als psychologisches Phänomen und inneres Tun entworfen. Das innere Handeln erscheint als Projizieren eigenen Wissens über bzw. Fühlens und richtet sich auf das Seelenleben bzw. das innere Leben anderer Menschen und Naturphänomene (Pflanzen, Tiere, Anorganisches); Lipps spricht von „Beseelung“.

In der gegenwärtigen Verwendung des Konzepts dominiert gegenüber dem Wissen das Fühlen. Davon zu unterscheiden ist die „Wesensschau“ der philosophischen Phänomenologie. Interessant ist, dass sich im herkömmlichen Verständnis weniger das Verständnis in der Linie von Lipps, sondern in der der Phänomenologie durchgesetzt hat.

Empathie als Sich-Einfühlen via Projektion und Wesensschau sind zwei unterschiedliche Konzeptionen. Der Unterschied liegt darin, dass im zweiten Fall die unmittelbare Schau, das unvermittelte Wahrnehmen exponiert wird, im ersten Fall die vermittelte, nämlich über das eigene, individuell-subjekte Fühlen das Fühlen des Gegenübers zu fühlen. Beide Varianten beanspruchen als Ergebnis Identifikation. Im ersten Fall als „Fühlen wie der andere“, im zweiten als „Erkennen des Anderen“. Die Unterscheidung von Ego und Alter Ego scheint im Ergebnis bzw. im Akt aufgehoben.

Diese Aufhebung betrifft übrigens alle momentan mehr oder weniger diskutierten Varianten des Empathieverständnisses. Das dominante Verständnis von Empathie als Einfühlung behauptet Empathie als notwendige Grundvoraussetzung für Mitmenschlichkeit. Die Variante, die das Hineindenken hervorhebt, begreift Empathie als eine Option, um Zugang zu einem anderen Menschen zu erhalten. Im ersten Fall „fühle ich wie Alter Ego“, im zweiten „denke ich wie Alter Ego“. Im ersten Fall orientiert sich Empathie an der Gefühls-, im zweiten an der mentalen, kognitiven, intellektuellen Welt des anderen. Die einen wollen fühlend erfassen, die anderen denkend verstehen.

Beide Auffassungen teilen eine Grundlogik: Konstitutiv für das Konzept Empathie sind Idee und Vorgang von Übertragung und Identifikation, und empathisch sein bedeutet daher, zu übertragen (eigenes Fühlen bzw. Denken) und zu identifizieren (mit dem Fühlen bzw. Denken).

In der Gegenwart herrscht, wie erwähnt, die Bedeutung von Empathie als das Sich-Einfühlen in das Gegenüber vor. Empathisierende übertragen eigenes Fühlen (und damit auch Anschauungen und Bewertungen) in andere Menschen und unterstellen dies als identisch mit dem gegenüber. Das Einfühlen erscheint als emotionales Sich-Identifizieren, als Verschmelzung oder Einswerdung; als Formel: X = Y, und entsprechend: Ego ist gleich Alter Ego. Im Alltag wird die Identifikation ausgedrückt in Wendungen wie: „Ich fühle wie du.“

(Aus der Perspektive des Adressaten der Einfühlung kann dies als asymmetrische Beziehung, als Machtausübung, als Absorption oder Usurpation, als „übergriffig“ und verfehlt bewertet werden. Diese Deutung kann der Empathische an allen Formen der Ablehnung und Infragestellung ablesen, die dem Typus folgen: „Wieso meinst du, mich zu durchschauen, zu sehen, mein Innerstes zu erkennen, ob nun fühlend oder verstehend?“ dazu siehe nächster Abschnitt).

Während sich Empathisierende in der Regel wähnen, sich „komplett auf den anderen einzustellen“, in ihn „einzutauchen“, die Welt „durch seine Brille zu sehen“ und „ganz mit ihm zu fühlen“, erweist sich, analytisch betrachtet, Empathie als ego-zentriert, selbstbezüglich. Projektionen nehmen ihren Ausgang in der eigenen Welt, samt der biologischen, sozialen, historischen, psychologischen, kulturellen Biographie, dem Sein und Gewordensein. Das persönliche Fühlen und Denken wird dem Gegenüber gleichsam übergestülpt und behauptet, aufgrund der vorgeblichen Selbstaufgabe sei dieses Überstülpen „in Wahrheit“ oder „eigentlich“ ein „ganzheitliches Erspüren“ des Anderen.

Unter welchen Bedingungen wird Empathie möglich?
Wie verhält sich Empathie zu Homogenität und Heterogenität?

Unter der Voraussetzung, dass Empathie Einfühlung meint, geht es grundsätzlich um die Frage: Brauchen Menschen Gemeinsamkeiten im Fühlen, um empathisch sein zu können? Benötigt das Konzept des Sich-Einfühlens universale menschliche Gefühle, Gefühlsexpressionen und Fühlanlässe?

In Psychologie und Kulturwissenschaften findet sich die Unterscheidung in Grund- oder Primärgefühle und Sekundärgefühle. Von ersteren wird angenommen, sie seien kulturunabhängig und anthropologisch gegeben, etwa Freude, Ekel, Zorn. Sekundärgefühle gelten als differenziert, individuell (biologisch, biographisch) und sozialkulturell geprägt, ebenso wie Ausdrucksanlass und Ausdrucksweise. Der These der Universalität bestimmter (Grund-) Gefühle wird, empirisch validiert, an die Seite gestellt, dass Menschen bestimmte, wiedererkennbare und gleich/ ähnlich etikettierte Gefühle hingegen kulturabhängig ausdrücken. Wie und in welchen Kontexten etwa das Grundgefühl Freude gezeigt wird, fällt kulturspezifisch aus. (Interkulturelle Empirie belegt das häufig mit Probanden aus dem US-amerikanischen und japanischen Raum.)

Strukturell die gleichen Überlegungen müssen jene unternehmen, die Empathie weniger als Hineinfühlen als ein Hineindenken begreifen. Sie müssen nach kognitive Strukturen, nach Denkmöglichkeiten, -kategorien, -weisen Ausschau halten und die gleichen Fragen nach Universalität und kulturellen Abhängigkeiten in Modi und Ausdrucksweisen formulieren. Auch hier gilt inzwischen als gesichert, dass bestimmte Grundkategorien im Wahrnehmen und Denken anthropologisch angelegt sind, etwa Raum-Zeit-Erfahrung. (Zur Einführung in die Fragestellung nach Denk-, Wahrnehmungskategorien noch immer eindrücklich die Darlegungen von Aristoteles und Immanuel Kant.)

Bejaht man die Notwendigkeit von Gemeinsamkeit, weil nur das Bekannte erkennbar ist, dann bedingt Empathie exakt dies: Gemeinsamkeiten. Zu fragen wäre noch: Müssen die bewusst sein oder nicht? Besteht ein Junktim zwischen Empathie und dem Erkennen von Bedingungen, in denen sie wirksam einsetzbar ist? In der öffentlich geführten Diskussion wird nicht gefragt, sondern behauptet und so getan als ob: als ob die Voraussetzung der Gemeinsamkeit entweder schlicht immer schon gegeben ist, weil wir als Menschen interagieren und als Menschen grundsätzlich gleich sind. Oder es wird kolportiert, dass auch da, wo Gemeinsamkeiten nicht offenkundig sind, diese durch guten Willen aufgedeckt oder hergestellt werden können: Das Fremde ist zugänglich, weil Menschen bei aller Verschiedenheit entweder grundlegend gleich ausgestattet sind und dies jederzeit erkennen können, oder Menschen durch guten Willen in der Lage sind, sich dem Fremden anzunähern, sich anzuverwandeln und/ oder sich vorzugaukeln, als sei es/etwas vertraut.

In beiden Fällen (Fühlen, Denken) geht es grundlegend nicht um Ausprägungen und deren Bewertung, sondern um kategoriales, existenzielles, dispositionales Vorhandensein oder nicht. Etwa analog der tiefengrammatikalischen Strukturen bei Chomsky. Kurz: Es geht um die Dimension der Universalität des Vorhandenseins. Danach kann man überlegen bzw. empirisch erforschen, ob Gefühle wie Freude (präziser: Freude fühlen, sich freuen) bzw. Denkoperationen sich kulturabhängig kleiden und manifestieren (expressieren) und damit erkennbar und projizierbar sind.

Diese Fragestellung ist, wie erwähnt, insbesondere in Bezug auf Gefühle, aber auch auf Denkkategorien gut erforscht. Die Ergebnisse legen nahe: Es gibt universelle Gemeinsamkeiten im Wahrnehmen, Denken, Fühlen; die Situationsbedingungen sowie soziokulturelle Prägungen entscheiden allerdings darüber, ob, wann, wie einem Gefühl/ Gedanken Ausdruck verliehen und es bzw. er damit erkennbar wird.

Es gibt unter denen, die sich der Frage nach Homogenität und Heterogenität als Bedingung der Möglichkeit für Verbindung und Verständigung widmen, also vor allem Philosophen, durchaus die konträre These: „Wo keine Ähnlichkeit, dort keine Empathie.“ Nur Bekanntes kann Empathie ermöglichen. Empathische Bemühungen scheitern notwendig an undamentaler, kategorialer Verschiedenheit.

Diese Position ist derzeit unpopulär und wird daher selten diskutiert. Neben moralischen und politischen Gründen, die auf dem volkspädagogischen und ideologischen Rasen erblühen, können folgende Argumente für diese Unpopularität angeführt werden: Man müsste überzeugend erklären, wie genuin Anderes als Anderes erkennbar und dann auch erfassbar und Empathie daher möglich sein könnte. Man landete rasch bei der desillusionierenden These, dass weder Empathie noch inter- und transkulturelle Verständigung bei heterogener, grundlegend verschiedener Kulturisation in einem integrativen, inkludierenden, homogenisierenden Harmonie- und Konsenssinn möglich wären. (Kontoversen dazu findet man im akademischen Milieu, etwa in der Kulturphilosophie/theorie, Vergleichenden Kultur- und Sprachwissenschaft, Ethologie.)

Anders gefragt:

„Wie ist es, eine Fledermaus zu sein?“
Diese berühmte, von Thomas Nagel, einem amerikanischen Philosophen, formulierte und essayistisch aufbereitete Frage pointiert die Begründung dafür, weshalb sich Empathie nicht als Passepartout eignet, weder, wenn man Universalien annimmt, noch unter der Annahme deren Abwesenheit. Schlagwortartig formuliert: Kein Mensch kann in Gehirn (Seele, Leib, Geist) eines anderen hinein, sich mit ihm identifizieren, das eigene wechseln - weder innerhalb, noch außerhalb der eigenen Spezies.

Auffällig ist, dass Apologeten der Empathie exakt dies für möglich halten: Person A „identifiziert sich“ mit Person B. Unterschiede sind aufgehoben, die dionysische Verschmelzung ist realisiert. Das Emotionale und das Rationale werden ebenso wenig unterschieden - und exakt dieser Abstinenz verdankt sich der Abschied von Empathie als Joker; denn diesem Unterschied wohnt das der Empathie zugeschriebene Leistungspotenzial inne.

Skeptiker bezweifeln, dass Einfühlen als Fühlen-was-der-andere-fühlt überhaupt möglich ist. Die Frage von Thomas Nagel gilt auch hier: Kein Mensch kann in die gesamte Personalität eines anderen hineintreten und wie dieser fühlen, sensorisch wahrnehmen, denken, handeln. Alles, was wir können, ist: annehmen, vorstellen und damit zu glauben, wie Alter Ego zu fühlen, denken, handeln.

Ein weiterer Einwand entzündet sich an der erwähnten Mensch-Welt-Verhältnis-Frage, an der prinzipiellen Frage nach dem Verhältnis von Empathie und Homo- bzw. Heterogenität. Diese Frage diskutiert Wolfgang Welsch, deutscher Philosoph der Gegenwart, in Lang- und Kurzform in zwei Büchern, die äußerst lesenswert sind. Bezogen auf Empathie lautet die Frage: Können wir etwas, das uns fremd ist, überhaupt fühlen und/oder erkennen? Erlaubt uns ein heterogenes Fremd- oder Anderssein sein dies überhaupt? Die einen sagen: Nein. Denn da das Andere grundlegend anders ist, können wir uns weder einfühlen noch eindenken, schlicht weil uns die Ausrüstung dafür fehlt. (Bestenfalls können nachfühlen und nachdenken, nachdem uns das Fremde erläutert wurde und es folglich nicht mehr fremd ist und also nachmachbar.)

(Maurice Merleau-Ponty mag eine Art Kompromiss anbieten. Er gesteht dem Anderen zu, jenseits des „Für-uns-seins“ noch etwas konstitutiv zu haben, das nicht für den Betrachter und nicht für ihn erfassbar ist. Möglich ist also eine Teilidentifikation, aber nie eine totale. Die eingangs erwähnte Phänomenologie und philosophisch-psychologische Ästhetik bejaht die Frage: Wir können uns in Gegenstände, Lebewesen, Natur einfühlen/ eindenken, auch ohne mit ihnen vertraut zu sein.)

Wo ist Empathie nötig?
Trotz aller begründeter Zweifel: Angenommen, die gerade erwähnte Identifikation sei möglich: Dennoch, heben Skeptiker hervor, könne Empathie das ihr unterstellte Leistungsspektrum grundsätzlich nicht erfüllen: Das bloße Fühlen genüge nicht, um den Anderen oder das Andere zu verstehen; denn Verstehen meine kognitives Erfassen.

Verstandestätigkeit ermöglicht, aus dem „Ich-fühle-wie-Du“-Identifikationsmuster auszusteigen. Denkend distanzieren wir uns, und dank dieser Distanz gerät der Andere als Anderer erst in den Blick. Erst mit Distanz, Anerkennen von Differenz und Distinguierung können wir das Fremde/ den Anderen als diesen erkennen und Verstehensbemühungen lenken.

Empathie als Einfühlung wird dort für unverzichtbar gehalten, wo es um Auslegung oder Deutung, um hermeneutisches Handeln geht. Im Konzept der Empathie wird dies gefühlhaft getan, formuliert als Vor-, Nach-, Ein-, Mitfühlen und mit der Annahme von Ähnlichkeit, Gemeinsamkeit, Affinität. Erst das Hineinfühlen und damit das Fühlen-wie-alter-ego-fühlt ermöglicht es, so die Überzeugung, Zugang zu diesem zu erhalten und ihn (emotional) zu verstehen.

Das kann gut gehen: Mit der Ähnlichkeit wächst die Trefferquote. Das kann daneben gehen: Mit der Verschiedenheit wächst die Fehlerquote. Das zeigen beispielsweise Liebesbeziehungen mit Partnern aus einander fremden bis gegensätzlichen Kulturen ebenso wie etwa Gruppen, die nach dem Prinzip der Diversität (generationell, kulturell, national) kombiniert sind. Und auch makrosozial demonstrieren brisante Entwicklungen das Heikle an der Annahme, trotz offenkundiger basaler Verschiedenheit Eigenes als Gemeinsames (dem Fakt oder Potenzial nach) zu unterstellen und daran Handeln zu knüpfen.

Alltagserfahrungen, wissenschaftlichen und empirischen Erkenntnissen zum Trotz wird Empathie als Bedingung der Möglichkeit für das konfliktfreie bzw. konfliktarme Miteinander gehandelt. Empathie, so heißt es, sei notwendig für Verständigung, gelingende Kommunikation, Interaktion, Kooperation, konstruktive Konfliktbehandlung.

Erstaunlich ist, wie sehr darauf beharrt wird, dass Einfühlen notwendig ist. Denn es gibt ja durchaus einen bekannten, wenn auch anstrengenderen weiteren Zugang zum Miteinander: das Hineindenken, auch mit dem Begriff Perspektivenwechsel übersetzt und mit dem der Rollenübernahme soziologisch konzipiert. In dieser Fassung von Zugang, Verstehen, Hinwenden zum Anderen wird Kognition zentral.

Kognition und Emotion operieren nach differenter Logik und in unterschiedlichen Erlebensweisen. Wer es neurowissenschaftlich möchte: Sie aktivieren z.T. verschiedene neuronale Netzwerke, samt dazugehörigen Neurotransmittern. Das gilt auch angesichts des Umstandes, dass das Limbische System gleichsam reflexartig nach Lust/Unlust, also gefühlsbezogen, vorsortiert und damit Denkakte konnotiert.

Kahnemans Langsame und Schnelle Entscheidungsbahnen entsprechen dieser verschiedenen Grundlogik und der damit verknüpften verschiedenartigen Leistung. Die Beliebtheit und Zustimmung, hängt auch damit zusammen, dass sie einfach herzustellen ist. Sie ähnelt einer Schnellstraße, nimmt Abkürzungen und ermöglicht (aufgrund ihrer Selbstreferenzialität) „gute Gefühle“. Kahnemans „Schnelles Denken“ ist ein Analogon dazu. Demgegenüber erfordert Denken im Sinn der Reflexion nicht nur mehr Zeit, sondern mehr Anstrengung und Konzentration.

In beiden Fällen übernimmt die Hinbewegung von Fühlen zu Fühlen und von Denken zu Denken eine Scharnierfunktion: Dort, wo wir nicht wissen, müssen wir annehmen, deuten, auslegen. Die einen tun dies gefühls-, die anderen verstandesmäßig. In beiden Operationen dient das angenommene Fühlen/Denken bzw. Gefühl und Gedanke als Sprungbrett für das Weiterführen der Kommunikation. Die funktionale Systemtheorie spricht von Anschlussverhalten.

Allerdings unterscheiden sich die Leistungen von Empathie und kognitivem Perspektivenwechsel fundamental: Hineinfühlen ist distanzlos und erkennt nichts; Denken erkennt und fühlt nichts. Es ist das kognitive Moment, das Erkennen ermöglicht – und folglich überlegtes Du-orientiertes Handeln.

Normative Wende
Es gehört zu den aktuellen Selbstverständlichkeiten, Empathie zu halten für: wünschenswert, moralisch gut, kommunikativ und interaktiv unentbehrlich.

Empathie avancierte von einer sympathischen Persönlichkeitsfacette und Fertigkeit zur verbindlichen Norm sowie zum Referenzwert für die Wertigkeit von Handeln auf den Wellen des Psychobooms der 1970er Jahre.

Empathie gilt für die Qualität professioneller Helfer (Psychotherapie, Lehrer, Seelsorge etc.) und bereits ab Ende der 1970er Jahre für Führungspersonen in Organisationen/ Unternehmen. Sie gilt ebenso als Maßstab für die Qualität von Kommunikation, Interaktion, Kooperation.

Spätestens mit Carl Rogers Gesprächspsychotherapie, im Zuge weiterer Ausläufer sogenannt emanzipatorischer Bestrebungen des Psychobooms und der Emotionalisierung von Selbstsicht und Interaktionen wandelte sich das Konzept Empathie zu einer notwendigen Fertigkeit in der Menschenführung, die nicht nur freundliche Zuwendung meint, sondern Einfühlung. Sie wird nicht mehr nur als „gute Eigenschaft“ bzw. moralisch und kommunikativ zielführendes und wünschenswertes Tun gewertet, sondern als unverzichtbare und deshalb verpflichtende Könnerschaft im professionellen (nichttherapeutischen) Umfeld gefordert, nämlich in Unternehmen. (Siehe dazu kritisch mein Buch: Unternehmen in der Psychofalle.)

Gefährliche Implikationen und Auswirkungen von Empathie
Neuerdings (um nicht zu sagen: endlich) kommen neuere Kritiken sogar aus psychologischer Ecke. Paul Bloom, Psychologieprofessor an der USA Yale-Uni in New Haven, widmete sich bereits vor Jahren gefährlichen, zumindest unerwünschten Implikationen und Auswüchsen von Empathie. Er wird in der Wirtschaftswoche vom 13.4.2017 (S. 20-24) ewähnt und zitiert mit diesem Akzent: Im Mai 2013 habe er einen Artikel für das Magazin „New Yorker“ geschrieben zum Thema Empathie. Eine zentrale Aussage laute: Empathie „hat einige unerfreuliche Eigenschaften“. Sie sei „engstirng und willkürlich. Und wir sind gut beraten, uns nicht auf sie zu verlassen.“ Thematisch also hier, wie oben skizziert: Selbstreferenzialität von Empathie und Empathie als Gnadenakt.

Selbstredend folgte der Shitstorm auf den Artikel prompt. 2016 erschien Paul Blooms Buch zum Thema. Auch hier ist zu lesen: Empathie sei dysfunktional und habe unerfreuliche Motive und Wirkungen – und die Abstinenz kognitiver Aktivität führe hierzu: „Sie verleitet uns regelmäßig zu törichten Urteilen und führt häufig zu Gleichgültigkeit oder gar Grausamkeit. Sie trägt zu irrationalen und ungerechten politischen Entscheidungen bei, korrumpiert wichtige Beziehungen und macht uns zu schlechteren Freunden, Eltern und Eheleuten“, so Mr. Bloom.

Ähnlich kritisch wie Paul Bloom formuliert der deutsche Fritz Breithaupt, Literatur- und Kognitionswissenschaftler an der Indiana-Uni in Bloomington, in seinem Buch aus diesem Jahr (2017). „Die dunkle Seite der Empathie“ hebt die weniger wünschenswerten Seiten und problematischen Aspekte und Auswirkungen von Empathie als Einfühlung hervor.

Drei Grundgedanken formuliert er in einem Interview mit Jan Drees (23.2.2017):
„Wer Empathie versteht, kann sie dazu einsetzen, Leute auf seine Seite zu ziehen. … Wenn man plötzlich mit den Augen eines anderen Menschen auf die Welt blickt, übernimmt man auch dessen Werturteile, werden plötzlich die anderen zu Feinden.“

Mitleid mache den Menschen „nicht zu einem guten Menschen. Wir sind als Menschen empathische Wesen und wir sind durch und durch von Empathie geprägt. Aber Empathie hilft erst einmal demjenigen, der Empathie empfindet, sie hat etwas Egoistisches. Dieser Mensch weiß dann, wie er sich dazu zu verhalten hat, wie er andere Menschen manipulieren, was er daraus machen kann.“

„Empathie und Parteinahme hängen eng miteinander zusammen. Wenn wir einen Konflikt zwischen zwei Parteien sehen, ergreifen wir Partei, nehmen die Perspektive dieser Menschen ein und erleben durch die alles mit, auch die andere Seite, die zunehmend böser wird oder unfairer oder unsympathischer. Damit kommen wir zu solchen Werturteilen, die sich immer stärker verdichten.“

Fritz Breithaupt spannt den Bogen weit. Er diskutiert personale Dispositionen bzw. Verhaltensweisen (z.B. Narzissmus, Psychopathie, Sadismus), die Empathiepsychologie von Helicopter- und Curling-Eltern, Interaktionen am Arbeitsplatz, Helfer-Syndrom, Donald Trump und die Reaktionen auf ihn als Paradebeispiel für empathiebasiertes Freund-Feind-Denken und –Handeln sowie Migrationspolitik (vgl. auch Bodo Morshäuser am 4.2.2017).

In Bezug auf Empathie am Arbeitsplatz hebt der Kognitionswissenschaftler hervor, wie sich die Grundpsychologik von Empathie in unerwünschter Weise äußern kann. Empathie wird problematisch, weil sie Konflikte schneller eskalieren lässt. Dies nicht zuletzt, weil ein empathischer Chef oder Kollege zwangsläufig (sic!) Partei ergreift. Dies hat im Gefolge, dass sich Chef und Kollege nicht als Moderatoren eignen und zudem – wenn sie Empathie gleichmäßig und nicht willkürlich verteilen – in der Zwickmühle stecken: Wem soll man Recht geben? Aufgrund der Parteilichkeit, die mit Empathie Hand in Hand geht, be- oder verhindert sie tragfähige Kompromisse, Win-Win-Lösungen, Synergie. Denn, da emotional unterlegt, „kennt (Empathie, R.M.) keine Grauabstufungen, sondern ordnet die Dinge meist in Schwarz oder Weiß ein.“ Daher ist Empathie kein kluger Ratgeber, bestenfalls, siehe oben, brauchbar als eine Strategie oder Technik, um Verstehen zu fördern.

Zudem eignet sich Empathie aufgrund der mangelnden Distanz und der damit verwobenen fehlenden Übersicht nicht als Konfliktlöser. Denn Empathie ist „reines Gefühl“, so Claus Lamm, Professor für Biologische Psychologie an Uni Wien, „was ihr fehlt, ist der Verstand – die Kraft, Lösungen zu finden und umzusetzen.“ Empathie ist distanzlos und egozentriert: Man fühlt, was man selbst meint, das der andere fühlen müsste (siehe oben). Und zudem, so der Professor weiter, besteht aufgrund der nachgewiesenen ansteckenden Wirkung von Gefühlen das Risiko, dass sich der Empathiker von dem Gefühl dessen anstecken lässt, mit dem er empathisch ist. Empathie macht parteiisch und kann kontraproduktiv ausgehen. Ferner weist er darauf hin, dass Empathie leicht in Mitleid umkippt. Und damit, sei hinzugefügt, wird die Beziehung asymmetrisch. Ferner entwickeln jene, die durch Empathie Vorteile erhalten, rasch ein Anspruchsverhalten, fordern sie aus der Sicht des Opfers ein, behandeln Empathie als Einbahnstraße (und nicht als Tauschverhältnis).

Empathie eignet sich nicht als allgemeinverbindliche Norm. Ihr immanent sind Selbstbezüglichkeit und Parteilichkeit, die blind machen und Eskalation befördern. Empathie kann keine tragfähigen integrativen Lösungen, Maßnahmen, Handlungen generieren. Dazu braucht sie den Verstand. Was ist also zu tun?

Was ist zu tun?
Empathie verbietet sich als Passepartout – weder zum Inneren des Anderen und Gegenübers, noch zu Konzilianz, mentaler Großzügigkeit, Kooperativität, konstruktiver Konfliktbehandlung und auch kein Mittel zu einer gerechteren Welt.

Wer keinem Tunnelblick erliegen möchte; wer den Parteilichkeitsbias möglichst gering halten möchte; wer in erster Linie verstehen möchte, um was es jeweils geht – der benötigt Distanz, um das Andere und den Anderen erkennen zu können. Er benötigt Verstand, Vernunft, Kognition, Rationalität. Erst die kognitiv gelenkte Kombination von Rationalität und Emotionalität im Sinn des Wechsels/Einnehmens von Standort, Kultur, Kontext und Motivation/ Interesse erhöht die Wahrscheinlichkeit, die Situation des Gegenübers mental/ kognitiv und fühlend/empathisch zu erfassen und damit eine menschenmöglich breite Basis für Anschlussverhalten zu haben, das sich nicht in Parteilichkeit ergießt, sondern aufgrund der Distanz des Betrachters immer noch kritisch fragen und folglich veränderte Prozesse in Denken und Fühlen in Bewegungen setzen kann.

 

Dr. Regina Mahlmann
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