Purpose und personale Souveränität: ein Spannungsverhältnis

am Donnerstag, 12 November 2020.

Purpose ist in vieler Leute Munde. Tendenz zunehmend, gerade wegen Sars-Cov 2. Warum? Weil im Zuge vermehrter virtueller Arbeit (Homeoffice) die Notwendigkeit virtuellen Führens zugenommen habe. Konsequenterweise ertönt der Appell an Führungskräfte, Mitarbeiter mit der Klammer „Sinn“ zusammenzuhalten und ihnen mehr Orientierung und Freiraum für mehr „Identifikation“ bzw. Entfaltung persönlicher Sinngebungen zu eröffnen. Sinn des Unternehmens und Sinn von Beschäftigten sollen idealiter deckungsgleich sein. „Empathie“ -ein weiterer Containerbegriff – kommt dabei eine Schlüsselrolle zu, sowohl für private als auch berufliche Situationen und Phasen als auch in der gesamten Kommunikation und Interaktion.

Purpose wird als Lösung und Mittel zugleich gehandelt für größtmögliche Deckung des subjektiven mit dem kollektiven, dem unternehmerischen „höheren Sinn“. Denn nur dies, so das Narrativ, sichere dauerhaft engagierte Mitarbeit und gutes Arbeitsklima.

Die Rede ist bei Purpose von einem Mehr an Sinnhaftigkeit, dem „höheren Sinn und Zweck“ in Begriffen von Nachhaltigkeit, politischer, sozialer, ökologischer und moralischer Correct- und Fairness. Das hat Folgen, und eine Facette dieser Folgen betrifft das Ausmaß, in dem sich personal souveränes Denken und Handeln äußern darf, sofern es abweicht von dem, was ein Purpose offenbar zulässt, ob, als Frage formuliert, Anpassungsdruck wächst – mit zumindest zu einem Teil unerwünschter und zum Purpose konträr laufenden Konsequenzen. Der Blick dieses Beitrags liegt auf diesem Teilaspekt der Gesamtproblematik: Wie kann persönliche Souveränität in Purpose-Organisationen insbesondere dann geäußert werden (Performance), wenn die Äußerung oder Handlung als Abweichung gewertet werden kann?

Der höhere Sinn und Zweck und das höhere Selbst
Purpose bezeichnet den „höheren Sinn & Zweck“ von Organisationen und konstituiert laut Haufe „Organisationen als Orte, an denen Menschen täglich Sinn stiften“, der seinerseits als Ergebnis der „Kombination von eigenen Beiträgen und den damit erzielten Wirkungen verstanden“ wird. „Der Purpose definiert, worin diese Wirkung besteht und welchen Beitrag die Organisation leisten will, um diese zu erzielen. Alles andere wird daran ausgerichtet. Sinnmaximierung statt Gewinnmaximierung, so Purpose-Stiftung.

Zudem werde die Beziehung zwischen Mensch und Organisation „neu definiert“, insofern Purpose Driven Organizations mitarbeiterzentriert seien und dies gelte: „Der Kontrakt zwischen Mensch und Organisation geht weit über den Deal „Arbeitszeit gegen Entlohnung “ hinaus. Er wird zu einer Partnerschaft, bei der Leistung und Beiträge für ein ganzheitliches Paket von Sinn, Einkommens-, Gestaltungs-, und Entwicklungsmöglichkeiten getauscht werden.“ (https://www.haufe.de/personal/hr-management/purpose-driven-organizations-unternehmen-auf-sinnsuche/unternehmen-mit-purpose-agieren-im-oekosystem_80_490902.html). Verantwortungs- statt Kapitaleigentum und Sinn- statt Gewinnmaximierung.

Dazu passt, quasi als flankierende Maßnahme die neueste Konjunktur und Forderung, ein „höheres Selbst“, ein „höheres Bewusstsein“ oder „Awareness“ auszubilden, um „das Beste aus sich herauszuholen“. „über sich selbst hinauszuwachsen“ und dem Sinn des Unternehmens zu dienen, der grosso modo unisono dem Bedeutungshorizont von „Rückbesinnung auf die Menschlichkeit“, „Ganzheitlichkeit“, „universale Gerechtigkeit und Gemeinwohl“ entspringt und damit dem neuesten Ethos in der Tec-Branche im Silicon Valley entspricht (Anne Philippi in der F.A.Z. zu u.a. Ben Tauber: „Zukunft der Tech-Konzerne: Wo lernt das Silicon Valley eine neue Moral?“ vom 16.01.2020 https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/digitec/wo-lernt-das-silicon-valley-eine-neue-moral-16578673.html?printPagedArticle=true#pageIndex_2).

Beispiele Purpose-Claims
Auch Unternehmen wollen unter dem Titel „Purpose“ höheren Sinn & Zweck verfolgen. Einige Beispiele bekannter Unternehmen: Thyssen-Krupp referenziert auf Alfred Krupp: „Zweck der Arbeit soll das Gemeinwohl sein.“ Sanofi nennt sich „Gesundheitsunternehmen, das Menschen bei ihren gesundheitlichen Herausforderungen unterstützt“, als „lebenslanger Begleiter“. Das Polymer-Unternehmen Covestro will mit seinen „Hightechprodukten die Grenzen des Möglichen verschieben, um die Welt ein Stück weit lebenswerter zu machen“. Chemiekonzern BASF verkündet, eine „bessere Lebensqualität für alle“ zu schaffen. SAP bezweckt, „das Leben der Menschen zu verbessern“ Merck, Georg: Unternehmen auf „Sinnsuche“: Von Kapitalisten zu Weltverbesserern? F.A.Z., 11.03.2019, https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/unternehmen/kapitalisten-auf-sinnsuche-16080256.html?printPagedArticle=true#void). Und Waschbär will „Ökologie und soziale Verantwortung im Alltag lebbar machen“. Die Beispiele ließen sich langatmig fortsetzen. Sie alle demonstrieren, dass es nicht mehr genügt, betriebs- und volkswirtschaftlich nützlich Beiträge zu leisten, sondern haben als Tenor die Rettung und Verbesserung der Menschheit, aller Menschen, der Welt. Bietet Purpose mit diesem beanspruchten Geltungsraum nicht einen derartig großen Freiraum, dass sich die Frage nach Abweichung und Toleranz, geschweige denn Akzeptanz und Einspeisung in eine Debatte erledigt?

Purpose als Korsett?
Man könnte sagen: Das sind so allgemeine, grobe Formulierungen, da hat man ja alle Freiheiten. Doch so ist es keinesfalls. Denn da sich Purpose-Formulierungen maßgeblich aus weltanschaulichen und ethischen Quellen speisen, gelten sowohl implizite als auch explizite Ge- und Verbote. Purpose ist weniger deskriptiv als präskriptiv, normativ und daher auch sanktionierend wirksam. Auf das Manifeste und Explizite kann man rasch referenzieren, während das Implizite weiteren Deutungsraum lässt. Und damit zu einer besonderen Falle für Abweichung gibt.

Dass Abweichung ein ungebetener Gast ist, zeigen sowohl Regeln bzw. Codices als auch Erfahrungen. Siehe etwa das Schicksal von James Demore bei Google; das Reagieren von Alnatura-Geschäftsführung im Rahmen der Absicht, in Bremen einen Betriebsrat zu installieren; das Einordnen der Krim als russisches Gebiet bei Apple; die Ausladungen von Kabarettisten bzw. kurzfristige Zurückziehen deren Beiträge, der selbst gewalthaften Verhinderung von Vorträgen seitens dem Mainstream entgegenschwimmenden Wissenschaftlern; dem Plädoyer einer Mehrheit von Studenten an der Universität Frankfurt, die dafür stimmen, Literatur aus der Bibliothek zu entfernen, die ihrem eigenen Meinen widerspricht. Was passiert, wenn die persönliche Deutung von Purpose jener der vermeintlichen Hauptströmung ideologisch-moralisch entgegensteht, mussten inzwischen dermaßen zahlreiche Wissenschaftler erfahren, dass sie ein intellectual dark web gegründet haben, auf dem sie sich anonym wissenschaftlich (!) furchtfrei äußern können. Auf Beispiele aus dem ideologischen Umfeld von Trigger Warnungen, Safe Spaces, Cancel Culture sowohl in Geistes-, Sozial-, in Kultur- und selbst in einigen Naturwissenschaften sei an dieser Stelle verzichtet.

In Unternehmen werden, um Purpose-konformes Verhalten zu gewährleisten, Manager in gehobenen Führungspositionen mittels Testverfahren (sogenannte Integritäts- und Persönlichkeitstests) ausgesucht, mit der leitenden Frage: Passen persönliche Wert- und Normfacetten, passt das Denken so zu unserem Purpose, das dieser die Quelle von Werten, Normen, Denken, Fühlen und Handeln der Person ist? Sind die Kandidaten geeignet, um „Purpose-driven People“ im Sinn der Organisation/ des Unternehmens zu sein? Man beachte: Diese Frage mit Rekurs auf kognitive, ethische, motivationale Passung hingestellt und geht über die Anforderung, Purpose-konformen Verhaltens hinaus.

In der Süddeutschen Zeitung vom 16.2.2020: ist zu lesen: Laut Kaiser-Stiftung, die zur US-Gesundheitspolitik forscht, bieten vier von fünf Großbetrieben ihren Belegschaften mittlerweile „Wellness-Programme“, sie reichen von Diabetesvorsorge und Tabakentwöhnung über Trainerstunden im Fitnessstudio bis zu Kursen gegen Übergewicht und Bluthochdruck. Alle Angestellten …. können die Offerten nutzen.“ Allerdings sei das kaum fakultativ zu verstehen; „denn immer mehr Beschäftigte stellen fest, dass sie mitnichten mitmachen können, sondern vielmehr müssen.“ Da locken Unternehmen „mit Geldprämien oder drohen mit Sanktionen, um Mitarbeiter dazu zu bewegen, ihren Lebensstil zu offenbaren, sich regelmäßig vom Betriebsarzt untersuchen zulassen, Kalorien oder Schritte zu zählen. Wieder andere geben gar maximale Blutzuckerwerte oder Taillenweiten vor.“ Als Purpose eignet sich die Zielsetzung laut einer Personalchefin: Mitarbeitern zu helfen, „sich zur bestmöglichen Version ihrer selbst zu entwickeln“.

Purpose als Korsett!
Dieses Beispiel konkretisiert ein Muster: Missachtung personaler Souveränität, sowohl durch Zwang als auch durch eine willkürliche, wenngleich zeitgeistige Wertentscheidung, die absolut wahr bzw. richtig gesetzt, als Norm (Verhaltensvorschrift) und Referenzwert formuliert und genutzt wird und praktische Folgen hat, zunächst für Betroffene, sodann für das Unternehmen. Etwa Homogenität. Homogenität indes beschränkt Kreativität, und der Mangel an beidem schränkt innovative, geschweige disruptiv innovative Leistung(soption)en ein.

Skepsis ist also angebracht. Bei allem vorgeblichen Spielraum ist dieser doch eng gefasst. Da inzwischen immer mehr Unternehmen einen Purpose proklamieren und Anpassung von allen Unternehmensmitgliedern fordern, fällt das konkrete Ausbuchstabieren in Ge- und Verbote, in Verhalten und Handlungen immer häufiger als Angriff auf personale Souveränität aus, d.h. auf die eigenständige Begründbarkeit, Begründung und deren Ausdruck (in Rede und Handlung). Keinesfalls primär unternehmensintern veranlasst, sondern durch empörte moralistische Stakeholder. Während etwa ein Joseph Kaeser sich den so genannten Aktivisten von Fridays for Future opportunistisch andient, begründet Brad Smith von Microsoft nüchtern, warum der Konzern selbstverständlich auch Unternehmen unterstützt, die beispielsweise fossile Energie fördern. In dieser Logik auch das Sozialunternehmen Share: „Teilen für eine bessere Welt“ (Gründer Günter Stricker, Ex-MA von Welternährungsprogramm; Produkte: Seife, Schoko, Wasser) und Ölkonzern Shell: Kooperation beschlossen und verteidigt mit: „Wir helfen Partnern, nachhaltig zu wirtschaften.“

Ein aktuelles Beispiel aus der Politik illustriert sehr konkret, worin das Korsetthafte von Purpose liegt. Leitende Fragen: Was bedeutet das Purpose-Korsett für Äußerungsweisen personaler Souveränität? Was passiert insbesondere bei Abweichung? Was, wenn – wie aktuell geschehen – sich ein vieljähriger Atomkraftgegner von den Grünen zusammentut mit einer Technikhistorikerin, mit Veronika Wendland, die zudem im Vorstand des Pro-Atom-Vereins Nukleria sitzt. Die Kontrahenten haben sich nach einem eskalierten Streit gefunden und einen gemeinsamen Aufruf formuliert, die deutschen AKWs länger als bisher datiert, laufen zu lassen, um rascher aus Kohle und Gas als Energieträger auszusteigen. Frau Wendland stimmen offenkundig nicht wenige Grüne zu, die sich das indes nicht zu sagen getrauen, „weil schon ein einziges Wort für Kernenergie bei dieser Partei zu jähem politischen Ableben führe. Die F.A.S. hat nachgeforscht und innerhalb weniger Tage gleich zwei wichtige Grüne gefunden, auf die das zutrifft: Uran sei zwar schlimm, saget einer von ihnen, der schlimmster aller Stoffe aber sei der Kohlenstoff. „Wir haben das falsche Schwein geschlachtet“, fügt er hinzu. Öffentlich sagen will er es nicht.“ (Konrad Schuller: Letzte Hoffnung Atomkraft. Zwei Ökoaktivisten wollen die Erderwärmung mit Kernenergie stoppen. Die Grünen stürzt das in Verlegenheit. In: .FA.S. 6.9.2020, S. 16)

Purpose und personal-souveräne Devianz
Pointiert gesprochen: Personal-souveräne Abweichung wird nur zugelassen, soweit sie noch integrierbar ist und ausgeschlossen, soweit die Internalisierung von Purpose mit allen Implikationen ungewiss scheint. Souverän agiert hier, wer Mimikry beherrscht, das perfekte Schauspiel, das So-tun-als-ob. Ist das die neue Kernkompetenz personaler Souveränität? Wie stehen dann Opportunismus und Homogenisierung im Verhältnis zum kreativen Spinnen, zu Anders- und Querdenken und Innovativität? Warum gilt Vielfalt von Unterschiedlichem hier nicht als Leitschnur (wo doch Diversität angeblich Bedingung der Möglichkeit für Erfolg ist)? Etc.

Aufforderung an Weiterbildner und Berater
Differenzieren Sie die drei verschiedenen Kategorien, in denen Purpose wirkt: Purpose in Unternehmen, in NGOs und ähnlichen, nicht gewinnorientierten Organisationen, persönlicher Purpose.

Die gemeinsame Klammer der drei Purpose-Arten kann man darin sehen, dass nicht-positivistische, im weitesten Sinn metaphysische Sphären angerufen werden („das Höhere“); dass diese mit handlungsrelevanten Überzeugungen transportiert werden (z.B. „Welt verbessern“, „Gemeinwohl fördern“, „Gesundheit fördern“, „Nachhaltigkeit leben“) und als Maßstab bzw. Normenset dienen für individuelle Handlungsoptionen. Für den persönlichen und organisatorischen Alltag lässt sich empirisch hinzufügen: Je zeitgeistopportuner ein Purpose formuliert ist, desto weniger ist Abweichung geduldet.

Unternehmen müssen dafür sorgen, dass Klarheit darüber besteht, was noch im Einklang mit dem Purpose steht. Die Negativvariante: „verboten ist“, fällt zu vage aus, da immer mehr unerwünscht ist, das Unerwünschte nicht aufzählbar ist, wohingegen das, was erwünscht ist, formuliert werden kann und damit auch Horizonte des Erwünschten und Tolerablen.
Berater können dabei assistieren, diese Klarheit herzustellen, insofern sie in der Lage sind, nicht gesinnungs-, sondern verantwortungsethisch zu denken und kategorialen, logischen etc. Denkweisen den Vorzug vor wertenden zu geben. „Was sollen/ können wir tun?“ als Leitfrage, und dies referenzieren auf den Purpose. Denn dieser hat nur dann eine Chance auf Glaubwürdigkeit und Entfaltung im Alltag, wenn hinreichend er konkrete Auskünfte über Erwünschtes, Unerwünschtes, Tolerables gibt, eingerahmt in den Horizont dessen, wofür Purpose steht. Neben unternehmensstrategischen, personalpolitischen, organisationalen Komponenten sind auch persönliche Spielräume zu thematisieren.

Vielleicht müssen sich Unternehmen fragen, inwiefern sie auf Kontroversen auslösende Querdenker und Querhandler verzichten wollen, deren Stärke darin besteht, abzuweichen, vertraute Vorannahmen, Logiken, Folgerungen deutlich in Frage zu stellen. Vielleicht müssen sich Unternehmen auch einer Entscheidung stellen: ob sie sich in erster Linie als Wirtschaftsorganisation verstehen und deren Code anwenden, oder in erster Linie als ethische, identitätsstiftende Organisation begreifen. Beide Fragen implizieren grundlegende und strategische Ausrichtungen, die Maßnahmen und Politiken verlangen, die auseinanderlaufen und nur dadurch Überlappungen aufweisen (können), dass die Systemgrenzen erodieren, dass, wie es Wirtschaftsethiker sagen, Wirtschaften immer auch ethisch und politisch ist. In dieser Melange freilich können zwar die Vorzeichen, die Referenzen für Handeln wechseln, und das mag als Chance gelten. Andererseits werden Entscheidungsreferenzen vage, unklar, wolkig, so dass entweder souveränes Handeln freies Spiel hat oder aber, wie es die Praxis zeigt, so weit eingeschränkt wird, dass „eigene Köpfe“ rasch bereit sind, das Unternehmen zu wechseln. Die drei Differenzierungen der bieten einen Rahmen für diese Debatte. 

Dr. Regina Mahlmann
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