„Seht her, die nackte Seele!“ – Die Zeit vom 6. März 2014 von Bernhard Pörksen
Sehr lesens- und vor allem nachdenkenswert finde ich den Artikel: „Seht her, die nackte Seele!“ In Die Zeit vom 6.3.14 von Bernhard Pörksen, Professor für Medienwissenschaft Uni Tübingen. Zusammen mit Hanne Detel schrieb er das Buch: „Der entfesselte Skandal. Das Ende der Kontrolle im digitalen Zeitalter.“ Die folgenden Zitate sind dem genannten Artikel entnommen.
„In jüngster Zeit ist in den Qualitätsmedien ein Genre entstanden, das den Journalismus beschädigt: Man versucht auf investigative Weise, dem Charakter von Politikern und Prominenten auf die Schliche zu kommen.“ Der Artikel ist in kritischer Absicht geschrieben und beklagt eine Reduktion von Komplexität sowie – damit verknüpft – einen Wechsel von der politischen in die persönliche Dimension, den „Charakter“.
Diese Personalisierung häuft sich nicht nur im politisch-gesellschaftlichen, sondern in einem zuweilen beängstigenden Maße auch in der Wirtschaftswelt. Personalisierung in Unternehmen ist im sogenannten postheroischen Zeitalter gang und gäbe. Da sind nicht nur dramatisierende und personalisierende Zuschreibungen zu nennen, die einen „Topmanager“ alleinverantwortlich für Geschehnisse in Unternehmen machen. Auch der Führungsdiskurs weist diese Vereinseitigung und Vereinfachung auf, insbesondere transportiert in Begriffen wie „Narzissmus“ (als mehr oder weniger laienhafte psycho-pathologisierende Diagnose, von der angeblich ausschließlich Führungspersonen betroffen seien) und „transformationale“ wie „charismatische“ Führung (als wünschens- und erstrebenswert in dem hiesigen emotionalisierten Umfeld gefordert).
Bernhard Pörksen verweist, wenn auch in einem anderen Kontext, auf eine Folgewirkung von Personalisierung und charakterologischen Zuschreibung hin: auf eine Verflachung intellektueller Anstrengung, einen Mangel an Differenzierung im Denken, Reden, Schreiben – und damit auf ein Defizit, das gerade in Unternehmen um sich greift: die Abnahme der Bereitschaft, sich Kompliziertem, geschweige denn Komplexem primär sachlich, inhaltlich zu widmen, und von Personen in einem ersten auf Verstehen ausgerichteten Anlauf abzusehen. (In praxi wird zwar eine „Fehlerkultur“ gefordert, die genau diesem Vorzeichen folgt; dennoch wird in der Regel zuallererst Ausschau nach sogenannten Schuldigen gehalten.)
Das Phänomen, um das es geht: „Ad-hoc-Diagnosen“ dank des moralisierenden, skandalisierenden und auf die Person zielenden Kurz- und Fehlschlusses: Von einer Handlung, z.B. Steuerhinterziehung oder Ablehnung eines Mitarbeiterwunsches, wird auf den Charakter der Person geschlossen. Der in seiner Tragweite im Wirtschaftssystem ausgiebig von Phil Rosenzweig untersuchte und in der Psychologie wohl bekannte Halo-Effekt lässt grüßen.
„Im Eifer solcher Ad-hoc-Diagnosen werden die Konturen eines Charaktertest-Journalismus sichtbar, der die eigenen Übergriffe als dringend gebotenen Entlarvungsauftrag maskiert und möglichst missgünstig interpretierte Details zum schwerwiegenden Persönlichkeitsbefund umdeutet. Es handelt sich um einen publizistischen Enthemmungsmechanismus und ein Genre der gezielten Personenkritik, die die Matrix zur Bewertung des Politischen zugunsten des Persönlichen und Moralischen hinter sich gelassen hat und letztlich auf die …. pseudoinvestigative Ausleuchtung des inneren Menschen zielt. Man will, gestützt vom Glauben an die eigene Fähigkeit zur Wahrheitserkenntnis, vor aller Augen ein Charaktergeheimnis lüften.“ Eben dies geschieht auch in Unternehmen. Die Akteure des engsten Kreises: Externe Berater, Personaler, Mitarbeitende – flankiert von Journalisten, die sich der mindestens einseitigen und vorzugsweise gefühlten Betroffenheitspsychologik, dem gegenwärtigen Diktum moralischer, sozialer, psychosomatischer etc. Korrektheit (soziale Erwünschtheit) anpassen und mehrheitlich unkritisch auf insbesondere Führungspersonen eindreschen, die gemäß Vereinfachung, Personalisierung als Urheber aller Missstände auserkoren sind. Und das alles im Habitus des bestenfalls laienpsychologischen „Ich durchschaue das“. Die Hybris ist auf der Seite schlichter Gemüter.
Bernhard Pörksen weiter: „Am Ende gilt es, eine womöglich widersprüchliche Gesamtpersönlichkeit auf die Essenz zusammenschrumpfen zu lassen und den Wesenskern eines Menschen … in der Öffentlichkeit zu präsentieren: … Die gesamte Enthüllungsidee wirkt nicht nur entschieden unpolitisch, sondern basiert auf einem letztlich vormodernen Rollen- und Selbstverständnis, weil doch vorausgesetzt wird, dass Menschen überhaupt einen festen, ihr Handeln dominierenden Wesenskern besitzen, nicht aber vielfältig und widersprüchlich sind, auf den unterschiedlichsten Bühnen in unterschiedlichster Weise unterwegs….“ Das vormoderne Momentum liegt meines Erachtens vor allem darin, dem (von mir aus: anthropologisch, neuerdings neurobiologisch begründbaren) Bedürfnis nach simplen Erklärungen, Zuschreibungen, nach eindeutigen Beziehungen und Verhältnissen Ausschau zu halten und daran festzuhalten auch dann, wenn doch evident ist, dass Kompliziertes, geschweige denn, Komplexes nicht auf das Eine reduzierbar ist. Ich betone: Exakt diese drastische Reduktion auf a) Eines, b) auf Person, dominiert in Unternehmen. Man mag sagen: Die Praxis vereinfacht notwendig. Selbst wenn das so ist: Bezeichnend (und, mit Verlaub, beschämend) ist, dass das Reden, Schreiben, Beraten in Sachen Führung mit den oben genannten Konzepten sich unbeeindruckt zeigt von dem, was ja auch zu finden ist: das Nachdenken, Reden, Schreiben über Führung in systemtheoretischen, in (arbeits-, organisations-, milieu-) soziologischen Begriffen und/ oder „postheroisch“ in sogenannt emanzipatorischer Absicht, das Partizipative hervorhebend (dazu gehört dann allerdings auch das Anziehen der disziplinarischen Anforderungen an sich selbst: auch und gerade die Generationen ab 1980 anvisierend). Kurz und ungut: Diagnose und Wirkungen in Gesellschaft und Unternehmen unterliegen einer Psycho-Logik, dem unzulässigen Schluss von einer Beobachtung bzw. dem Wissen um einen Aspekt einer Person auf die gesamte Person (Rollenidentität), gar Persönlichkeit.
Noch einmal Bernhard Pörksen: „Warum ist die Charakterfrage heute so schrecklich wichtig? Der Charakter ist, wenn Ideologien und politische Programme als gedankliche Geländer zur Verhaltensprognose wegbrechen und Sachfragen zu komplex und irgendwie auch zu anstrengend erscheinen, wenn sich die Grenzen des Öffentlichen und des Privaten ohnehin verschieben und man schnell einen neuen Dreh in einer Phase peinigender Nachrichtenarmut braucht, eine Art Ersatz- und Universalschlüssel zur Ordnung der Welt und zur Einschätzung der in ihr handelnden Personen. Man kann dann – in einem intellektuell fragwürdigen, aber kognitiv attraktiven Verfahren der allmählichen Generalisierung – immer weiter hochrechnen: Aus dem vergangenen privaten Verhalten wird so die Prognose über das zukünftige politische Handeln …Und es gibt eine unmittelbar einleuchtende Geschichte, anfassbar und konkret …Charakterdeutungen sind narrationsfähig …Charakterdeutungen passen zu einer von psychologischen Sprachspielen und dem Authentizitätsphantasma faszinierten Kultur. Sie erzeugen – zumindest dem Anschein nach – Gewissheit in diesem … Universum der Unübersichtlichkeit, eine binäre Scheinklarheit, die die Widersprüchlichkeit des Menschen auf eine paradox psychologieferne Weise verleugnet, ja im Extremfall sein unvermeidlich changierendes Wesen selbst skandalisiert und ihn zum Heuchler stempelt. Aber der Preis ist hoch, weil der Sound einer kleinlichen Diffamierung den Journalismus selbst unsympathisch macht und weil auf Dauer ohnehin niemand genügen kann. Und weil sich alle, auch die, die gerade noch irgendwie davongekommen oder bislang unentdeckt geblieben sind, in einer derart grell ausgeleuchteten Welt nur geduckt fortbewegen können oder doch zumindest permanent an der Abdichtung der Fassade arbeiten müssen, vielleicht ängstlich und womöglich raffiniert, mit Sicherheit jedoch unfrei.“
Dem ist nichts hinzuzufügen, außer einem bedauernden Nicken. Exakt das Beschriebene kennt nicht nur der öffentliche Raum, sondern geschieht auch in Organisationen/ Unternehmen. Das Heikle (für demokratisch organisierte Systeme) liegt unter anderem in der sukzessiven Banalisierung und Emotionalisierung von Wirklichkeit(skonstruktionen) und in dem darauf bezogenen Denken und Handeln. Martha Nussbaum, etwa, zeigt in ihren neuesten Büchern eindrücklich, wieso Demokratiefähigkeit von Menschen zu zerbröseln scheint. (Und „The Circle“ demonstriert, wohin das naive Pathos von Einfachheit, Wohlfühlwelt, Fremdkontrolle unter dem Label Sicherheit und Teilen mündet: in eine Diktatur. Evgeny Morozov und Jaron Lanier sekundieren hier uneingeschränkt.
Ferner, um einen weiteren Ausfluss anzusprechen, feiert – ob als Selbstschutz oder als Verfechter hygienischer Reinheit von Menschen und Welt - ein vorauseilender Gehorsam fröhliche Urständ. Er ist inzwischen salonfähig, mehr noch: gefordert, und zwar aus Furcht und damit als Anpassung an eine vor allem dank der blitzartig raschen Verbreitbarkeit von Nachrichten, vorzugsweise via Social Media (shitstorm als Negativvariante) vertretenen Ideologie und Selbstgerechtigkeit seitens einer technologische Optionen nutzenden Minderheit, die zur Mehrheit, mindestens zu einem erheblichen, im wörtlichen Sinn maß-gebenden Einflussfaktor für Personen und Gruppen ausgewachsen ist, die ihrerseits – siehe oben – selbst demokratischen Werten Hohn sprechende Urteile (Beurteilungen) an- und vorwegnehmen, als Tatsache und Maßstab postieren und darauf reagieren. „Der Mann mit dem Bild“ von Paul Watzlawik veranschaulicht amüsant, was dieser Kreislauf der Selbstbezüglichkeit und das Verwechseln von Annahmen und Vorstellungen mit Realität in Gang setzt.
Vorauseilender und auf Furcht vor Denunziation beruhender Opportunismus als Normalität – zusammen mit Halo-Effekt/Personalisierung und Monokausalität ein explosives Gemisch, dessen Preis hoch ausfällt: Er stellt die nachhaltige Demokratiefertigkeit von Bürgern bzw. von Führenden und Geführten in Unternehmen in Zweifel – und provoziert Fragen, die noch lauter und von noch viel mehr Persönlichkeiten formuliert und kontrovers diskutiert werden müssen, als es bisher der Fall ist.