Sind „Leitsätze guter Führung“ noch zeitgemäß?
Die Nachfrage nach „Leitsätzen guter Führung“, an denen sich Führungskräfte orientieren sollen oder können, ist noch immer ausgeprägt.
Das erstaunt insofern, als seit Jahren im Diskursfeld „Demokratisches Führen“ und „Agiles Führen“ das egalitäre Moment hochgehalten und damit „Leitsätze guter Führung“ mit der Adresse „Führungskräfte“ überflüssig würden. Von der hierarchiefreien Führung wird zunehmend als bereits teilweise realisiertes, in jedem Fall nahendes „Projekt“ gesprochen.
Im Zuge der partizipativen, emanzipativen, egalitären, demokratisierenden Führungsphilosophie und –praxis wird konsequenterweise nicht nur von Führungskräften, sondern auch Mitarbeitern Führungskompetenz verlangt. Das Hauptargument stellt darauf ab, dass laterales, kollegiales Führen zunehme und zudem jeder Experte qua Teamführung in Führungsverantwortung gelangen könne. Dieser Tenor ist hörbar insbesondere in Unternehmen oder Unternehmensbereichen, in denen Hierarchiestufen abgebaut werden bzw. die sich zunehmend als Netzwerkorganisation verstehen.
Konvergieren also zentrale Anforderungen, und werden obige „Leitsätze“ an „offizielle“ Führungskräfte obsolet?
Dazu im Folgenden einige erste Überlegungen.
Die Zuschreibung „gut“ wird gemeinhin im Horizont der Frage nach Leitsätzen auf Menschenführung bezogen. Ich erweitere auf „zielführend“ mit dem Fokus auf Verhalten und Handeln, das auf nachhaltigen, tragfähigen Erfolg aus unternehmerischer Sicht setzt.
Anknüpfende Überlegungen müssen Führungsfunktionen im Hinblick auf Erfolgskriterien und das konkrete Umfeld differenzieren, inklusiv Verantwortlichkeit, Zuständigkeit, Befugnis, nötige personale, mentale, kognitive Bereitschaften und Fertigkeiten sowie fachliche und methodische Kompetenzen.
Konvergenz von Anforderungen
Gewünschte Kompetenzen (Fähig-, Fertigkeiten) und Befugnisse von Mitarbeitern im so genannten digitalen Zeitalter umfassen Facetten, die sich mit denen von Führungskräften in einem Ausmaß decken, das die Frage nahelegt, inwiefern es noch Unterschiede gibt.
Peter Drucker, der vielen Personalern und Beratern als Autorität gilt, ebnete die Unterschiede bereits vor gut drei Jahrzehnten ein, indem er meinte, Führung sei auf jeden einzelnen Angestellten verteilt. Heutzutage deuten Etiketten oder Rollenzuschreibungen die Konvergenz an. Führungskräfte und Mitarbeiter werden positioniert in den Rollen Dirigent und Treiber, Akteur und Leader, Prozessgestalter und Moderator, Katalysator und Innovator und gelten gleichermaßen als Vorbereiter für „Disruption“. Führungskräfte wie Mitarbeiter sollen zudem neben personaler Souveränität und Integrität fachliche, methodische, kollaborative/ kooperative und soziale Fertigkeiten beherrschen, die das Unternehmen „weiterbringen“ und sollen bei alldem über das persönliche Wirkumfeld hinausschauen.
Die Argumentation stützt sich auf die vom rasanten Wandel technologischer Optionen getragene Veränderlichkeit von Grenzen und Strukturen, Routinen und Prozedere, von Fähigkeiten und Fertigkeiten, sowohl in Bezug auf personale Anforderungen als auch kollektive Leistungszumutungen. Betroffen sind beide Gruppen. Führungskräfte wie Mitarbeiter sind aufgerufen, in einem Umfeld sich zu bewähren, das sich auszeichnet durch wechselnde sachliche, kognitive, kommunikative und interaktive Anforderungen, erhöhten Bedarf an unternehmerisches Denken und Handeln.
Demnach fallen grundsätzliche Schlüsselqualifikationen zusammen. Die folgende Auswahl versammelt auffällig häufig mündlich und schriftlich genannte Fähig- und Fertigkeiten.
Persönlichkeit und Selbstreflexion
Mitarbeiter wie Führungskräfte sollen durch Persönlichkeit überzeugen. Dazu gehöre insbesondere die Bereitschaft und Fertigkeit zu kritischer Reflexion eigenen Fühlens, Denkens und Verhaltens, um die Selbststeuerung zu erhöhen und die Passung zwischen Fertigkeiten und Anforderungen immer wieder zu überprüfen und zu justieren. Angehörige beider Gruppen sollen integer, souverän, konfliktbereit, hochkooperativ, in Denken, Fühlen, Handeln flexibel, ferner bereit und in der Lage sein, lebenslang zu lernen und damit sowohl sich selbst als auch dem Vorankommen des Unternehmens dienen.
Selbstwertgefühl und Resilienz
Ein positives Selbstwertgefühl (Selbstakzeptanz) und robuste Disstressresistenz gelten als Bedingung der Möglichkeit, selbstsicher aufzutreten, Neues willkommen zu heißen und sozial kompetent zu handeln. Da der Arbeitsalltag auch Erfahrungen des Scheiterns und anders motivierte Enttäuschungen mit sich bringt, sollen die Adressaten an ihrer Resilienz arbeiten, um Scheitern konstruktiv zu deuten und gestärkt aus solchen Erfahrungen hervorzugehen: Betroffene sollen etwa angesichts von Fehlern und Misserfolgen nicht verzagen, sondern an ihnen wachsen: „Hinfallen – Aufstehen – Krönchen zurechtrücken – Weiterlaufen“ als Prinzip.
Empathie und Kommunikation
Mitarbeiter wie Führungskräfte sollen kommunikativ aufgeschlossen und empathisch sein, freimütig Feedback geben und kritisches Feedback willkommen heißen. Sie sollen aufmerksam zuhören und Perspektiven anderer übernehmen, um das Arbeiten im Team auch dann für alle zielführend zu organisieren, wenn die personelle Zusammensetzung sich oft ändert, Teamspannungen auftreten und Konfliktkonstellationen eine lösungs- und zielorientierte Behandlung erfordern.
Kognition und Wissen
Mitarbeiter wie Führungspersonen werden angehalten, sich insbesondere im systemischen Denken zu trainieren und lernoffen zu bleiben. Diese Forderung bezieht sich in der Regel darauf, Zusammenhänge und Muster zu erkennen und zu gewichten, daher in Relationen und Prozessen sowie evidenzbasiert zu denken und zu entscheiden und für die Einordnung „über den Tellerrand“, den unmittelbaren Wirkungskreis (Team, Abteilung etc.) hinauszusehen. Das impliziert, so das Postulat, die fachliche Arbeit in das Wettbewerbsfeld, in technologische Entwicklung(schancen) und andere geschäftsrelevante Umwelten und Entwicklungen einzubetten. Der Horizont ist weit gespannt.
Fach-, Methoden-, Tool-, Moderationskompetenz
Mitarbeiter wie Führungskräfte sind aufgerufen, sich fachlich und methodisch im Rahmen agilen Arbeitens à jour zu halten, digitale Kollaborationstools (z.B. Kanban, Scrum) ebenso zu nutzen wie innovationsfreundliche Methoden (z.B. Design Thinking). Auch das Wissen um Modelle wie Soziokratie, Holakratie und Liquid Leadership wird angemahnt. Beide Gruppen sollen fähig sein, Ambidextrie zu leben, „Digital Leadership“ im Alltag zu realisieren - auch wenn dieses Postulat im Sinn von Führung bisher vorzugsweise an Führungskräfte gerichtet wird. Dass Mitarbeiter dennoch mitgemeint sind, ergibt sich aus den Anforderungen, denen sie genüge leisten sollen. (Eine differenzierte Betrachtung erfolgt in einem anderen Beitrag.)
Das Bestreben, auf formelle personale Führung im tradierten Sinn zu verzichten, verdeutlichen in besonderer und gleichzeitig unterschiedlicher Nuancierung und unterschiedlich engem Regelkorsett die Modelle Holacracy (Brian J. Robertson: Holacracy: Ein revolutionäres Management-System für eine volatile Welt. München 2016), Soziokratie (Strauch, Barbara, Annewiek Reijmer: Soziokratie. Kreisstrukturen als Organisationsprinzip zur Stärkung der Mitverantwortung des Einzelnen. München 2018) und Liquid Leadership (http://www.presseportal.de/pm/62822/3428241, Gottlieb Duttweiler Institute GDI, Neuer «GDI Impuls» zu «Liquid Leadership», 13.09.2016). (Dass hier die Funktion „Führung“ beibehalten wird, zeigen die Vorgaben und Regeln. Sie ersetzen personale Führung im tradierten Sinn mehr oder weniger und reklamieren (dennoch) für sich, weitestgehend auf formelle Führung zu verzichten. Dies näher zu beleuchten, ist ebenfalls einem anderen Beitrag vorbehalten.
Unternehmertum
Mitarbeiter und Führungskräfte sollen unternehmerisch denken und handeln. Die übliche Aufzählung der dazu nötigen Bereitschaften und Fertigkeiten erspare ich mir hier – der Blick in ein x-beliebiges Buch zu „moderner“, „guter“, gar „systemischer“ Führung liefert Kataloge. Vernachlässigt wird in den Katalogen häufig ein an Relevanz zunehmender Aspekt, nämlich dass praktisches Unternehmertum eine sachlich-fachlich begründete Risikoaffinität erfordert (neben einem Panoramablick auf bedeutsame Umwelten). Risikoaffinität und Ungewissheitstoleranz sind beispielsweise nötig, um den Modus des Experiments, des Pilots oder des Arbeitens mit Betaversionen mit iterativer (von Kunden inspirierter) Verbesserungslogik im Rahmen innovativer Bestrebungen zu realisieren, auf seine Funktionalität hin zu beurteilen und bei Bewährung auszuweiten. Die ausgreifende systematische Nutzung operiert vor dem Hintergrund, dass lineare Planung (als Vorwegnahme des präzisen Ergebnisses und detaillierten Abarbeitens vorgesehener Schritte) kaum noch möglich ist. Vor diesem Hintergrund gilt es, souverän zu entscheiden. In diesem Umfeld wird auch von Mitarbeitern verlangt, innerhalb ihres Verantwortungsbereichs gleichsam „visionär“ zu denken, eigene Initiativen entsprechend einzuordnen und aufzusetzen.
Der Fokus auf den unternehmerischen Erfolg in einem wandlungsreichen Umfeld gebietet ausgeprägte persönliche Anpassungsbereitschaft in diversen Hinsichten. Stellenbeschreibungen, etwa, sind verpönt (und erzeugen in der Regel Verunsicherung); gefordert werden fluide organisationale Strukturen und Prozesse bis hin zum Modell des Führens auf Zeit sowie fundierte Entscheidungskompetenzen und –befugnisse von allen Beteiligten. Mitarbeitern wird daher nahegelegt, darauf verzichten, die eigene Karriere auf das Hinaufklettern der Führungsleiter auszurichten und stattdessen die Fach-, Expertenlaufbahn einzuschlagen (was, wie empirische Daten zeigen, in hohem Maß verfolgt wird). Führungskräften wird angeraten, ihre Führungsfunktion zunehmend als vorrübergehend zu begreifen – und folglich ebenfalls ein Auge auf die Expertenlaufbahn zu lenken.
Austauschbarkeit von Rollen?
In diesem Rahmen erscheinen Funktionen und Rollen austauschbar. Die Austauschbarkeit formeller Rollen Mitarbeiter/ Führungskraft demonstriert die Praxis dort, wo es kaum oder keine Linienstruktur mehr gibt und Unternehmen als Netzwerke organisiert sind oder, ausgeprägt im Kontext von Plattformwirtschaft, so stark projektorientiert arbeiten, dass die Teams und deren Führung häufigen Wechsel erfahren. Auch dass Unternehmen damit experimentieren, Führungskräfte wählen zu lassen, deutet auf Austauschbarkeit hin, hier semantisch verwoben in Egalisierung. Zu den Insignien der Austauschbarkeit gehört charakteristischerweise eine völlige oder weitestgehend selbstbestimmte und selbstorganisierte Arbeit, soweit sie mit strategischen Zielen harmoniert.
Grob gesprochen arbeiten Führungskräfte und Mitarbeiter in solchen und ähnlichen Kontexten unternehmerisch (jedenfalls der Idee nach). Folglich ist es konsequent, Führung auf prinzipiell alle Schultern zu verteilen und folglich Mitarbeiter mit Führungsanforderungen zu konfrontieren.
Sind „Leitsätze guter Führung“ noch zeitgemäß?
Zur Eingangsfrage: Sind „Leitsätze guter Führung“ im hergebrachten Sinn noch zeitgemäß? Nein und Ja.
Zwar erschöpfen sich Antworten keinesfalls in dieser binären Codierung; Differenzierung und die Erweiterung der Antwortoptionen auf „Jein“ sind angeraten. Die hiesigen ersten Anlaufschritte nehmen die binäre Option. Eine differenzierende Antwort, die Sowohl-Als-auch einbezieht – und damit nötigen Unterscheidungen und Gewichtungen – wird folgen.
Zunächst also im Rahmen des Ja und Neins einige Überlegungen:
Nein aufgrund der hohen Übereinstimmung wesentlicher und zum Teil hinreichender Attribute, die gemeinhin Führungsverantwortung mitbeschreiben und die Überzeugung akzeptiert ist, der Fokus auf personale Eigenschaften, Fähig-, Fertigkeiten und Bereitschaften genüge („Führungspersönlichkeit“).
Nein, wenn die Tendenz zum Abbau von Hierarchien, zur Einebnung von Unterschieden, zu Egalisierung, Gleichberechtigung und Gleichverteilung von Aufgaben, die auch traditionelle Führungsverantwortung betreffen, fortschreitet, Führung zur Wahl gestellt wird (Demokratisierung qua Mehrheitsprinzip), Führung unabhängig von Rang, Verantwortungsbereich, Rolle und Funktionsgewichtung bestimmt und insofern standardisiert wird.
Nein, sofern die Entwicklung einer netzwerkähnlichen, projektorientierten, modular in wechselnden Konfigurationen organisierten (Plattform-) Wirtschafts- und Arbeitsweise zunimmt, Unterschiede bezüglich (Entscheidungs-) Macht und anderer Befugnisse wegfallen. In diesem Zusammenhang wird das Nein verstärkt durch den Glauben daran, dass formale Führung nicht nötig ist und informelle Führung ausreicht. Stichwort: New Work in der polit-philosophischen Fassung von Frithjof Bergmann.
Nein, wenn der Verzicht einhergeht mit der Befähigung aller, nicht nur unternehmerische Sicht einzunehmen, sondern wie Unternehmer zu leben, zu denken und zu handeln. Dazu gehört neben exquisit unternehmerischen Fertigkeiten (mental, behavioral), auf den Zugang zu Informationsquellen und Informationen zu schauen. Wie in sämtlichen gesellschaftlichen Bereichen gibt es auch in der Wirtschaftswelt verschiedene Milieus, Gruppen (Vereine, Kreise, Zirkel), die diskriminieren: unterscheiden. Es gibt ein Innen und ein Außen, es gibt Zugehörigkeit und Nicht-Zugehörigkeit, es gibt Kriterien, Optionen und Beschränkungen in Bezug auf den Zugang zu anderen Zirkeln, zu Personen, zu diskutierten Überlegungen und zu Informationen. Milieus und Zirkel wirken notwendig selektiv, ob qua Herkunft, Bildung oder anderer Kriterien (wie z.B. jene, nach denen die Bundesregierung auswählt, welche Unternehmensrepräsentanten bei Staatsbesuchen dabei sind). Unabhängig davon, ob man von „Filz“, „Netzwerk“, „privilegierten“ Personen/ Gruppen, „Beziehungsmanagement“ und Ähnlichem spricht, gemeint ist immer diese in sich vielfältige Selektivität.
Ein Nein bezüglich der „Leitsätze“ muss diese folgenreiche Selektivität einspeisen, sie gewissermaßen aufheben und das gesamte Spektrum jedem geschäftlich relevanten Akteur zugänglich machen bzw. dafür zu sorgen, dass relevantes Wissen fließt. Es geht darum, dass Informationen von A (Person, Kreis), die nur A zugänglich sind, weitergegeben werden, durch Varianten von Repräsentativität oder „Gießkannenmodus“. Kommunikation als Austausch und Vermittlung muss durchlässig sein, um Weitergabe und Verarbeitung sicherzustellen. Das kann eingedenk von Plattform-, Netzwerk-, Projektwirtschaft nicht nur auf das eigene Unternehmen beschränkt bleiben. Strukturell und prozedural muss gewährleistet sein, dass alle für das Geschäft auch nur möglicherweise nützliche Informationen gestreut und verarbeitet werden.
Gemessen an nur schon diesen Überlegungen erscheint es unmöglich, auf Hierarchie und damit auf Führungsleitlinien zu verzichten. Diese müssen – entgegen dem herkömmlichen Diskurs – positionell und funktionell spezifiziert werden.
Exakt hierin ist zugleich ein Ja begründet.
Ja in einem Arbeitsumfeld, zu dessen Charakteristika gehören: der Wechsel von Partnern, Kollegen etc., unternehmensüberschreitendes Kooperieren (bis hin zur Auflösung traditioneller Unternehmensidentität), Entscheiden und strategisches sowie langfristiges, nachhaltiges Aufgleisen von Geschäftsmodellen und Entwicklungen, von Produkten und Diensten, was umfassendes Wissen mitbedingt auch über geopolitische und –wirtschaftliche Parameter. Hier braucht es formelle Führungskräfte mit unterscheidbaren Funktionen und Befugnissen. Mitarbeiter wären schlicht überfordert, zumal sie als Spezialisten primär ihr Expertentum aktuell halten, vertiefen, effektiv und effizient einsetzen sollen.
Die Überforderungsthese wird gestützt von Untersuchungen, die belegen, dass Klagen über „zu viel Stress“ infolge „agiler“ Arbeitsmethoden zugenommen haben. Außerdem strebt nur eine Minderheit von Hochschulabsolventen eine Führungslaufbahn an. Die dominante Begründung hebt auf den Arbeitsaufwand und das Ausmaß an Disstress und Verantwortung ab sowie auf die mangelnde Möglichkeit, das Ausmaß des nötigen Engagements mit persönlichen Interessen zu verbinden. Das BlendedLife-Modell (im Vergleich zur Work-Life-Balance) entfaltet gegenwärtig keine Sogfunktion. Der Trend geht hin zum „Arbeiten, um sehr gut und vergnüglich leben“ (Generation X, R. Scholz).
Einen weiteren strukturellen, systematischen, programmatischen Aspekt des Überforderungsrisikos beleuchtet folgendes Zitat, das auf einen (erwähnten) typischen Umstand in der neueren Arbeitswelt abstellt: „Mitarbeiter, die rechtlich zwar einem Arbeitgeber zugeordnet sind, sind künftig nicht mehr nur für einen Betrieb eines Arbeitgebers, sondern für mehrere Betriebe mehrerer Arbeitgeber im Konzern oder als Dienstleister beim Kunden oder auch als deren Leiharbeitnehmer tätig. Teams werden immer häufiger aus Mitarbeitern mehrerer Unternehmen des Konzerns und auch aus Mitarbeitern des Kunden zusammengesetzt. Arbeiten 4.0 stellt auch die Mitarbeiter vor enorme Herausforderungen: Häufiger wechselnde Arbeitsorte, wechselnde Teams, ständig wechselnde Chefs - zuweilen kurz - befristete Arbeitseinsätze und ein in ständigem Wandel befindliches betriebliches Umfeld erfordern ein hohes Maß an Veränderungsbereitschaft des Mitarbeiters und immer mehr Kommunikationsfähigkeit. Die bekannte feste Betriebsgemeinschaft mit jahrelangen beruflichen Beziehungen zu einem festen Kollegenkreis, gern auch "Seilschaft" genannt, gehört der Vergangenheit an - mit allen Vor- und Nachteilen.“ (http://www.manager magazin.de/unternehmen/karriere/digitalisierung-der-arbeitswelt-wie-funktioniert-arbeiten-4-0-a-1082272-3.html, von Stefan Röhrborn)
Ja, sofern auszeichnende Führungsfunktionen (verbunden also mit besonderen Befugnissen, Aufgaben) unvermeidlich sind (zumal, s.o., immer weniger Personen diese Funktion übernehmen möchten), Führung durch Menschen weiterhin nötig bleibt, Führungsfunktionen nicht technisch exekutiert werden. In diesem Kontext ist zu bedenken:
Unternehmen befinden sich in einem Stadium, das menschliche Führung noch unersetzlich macht; KI und EI sind noch nicht so weit entwickelt, dass sie menschliche Interaktion komplett übernehmen könnten. Zudem ist in allen kooperativen oder kollaborativen Varianten das Bedürfnis von Menschen nach direktem Kontakt, nach Mitgefühl, Einfühlung, Sensibilität in Sprechen und Handeln noch immer, manche sagen: in erhöhtem Maß ausgeprägt, so dass darauf nicht verzichtet werden kann. Und da dies Rechner bestenfalls ansatzweise, keinesfalls indes zuverlässig leisten, braucht es Menschen in Führungskontexten, noch.
Ähnliches trifft auf sachliche Anforderungen zu, etwa in Bezug auf rasches improvisatorisches Intervenieren. Trotz zunehmenden Vertrauens in Maschinen („Pepper“, „Eliza“ (Weizenbaum), Chatbots, Avatare als Stichworte) möchten mehrheitlich (noch) Menschen mit Menschen interagieren. Dies gilt insbesondere dann, wenn sich Konflikte anbahnen, umgehendes Entscheiden und Handeln gefordert ist, spontan/ intuitiv bzw. via Verhandlung für alle Beteiligten/ Betroffenen tragfähige Lösungen gefunden werden müssen, Bewerber ausgewählt werden sollen, etc.. Ähnliches gilt für unternehmerische Führung und Entscheidungshoheit (siehe Mängel z.B. bei Übersetzungen, Legal Tech und weitere digitalisierte Angebote in der Finanz- und Versicherungswirtschaft, Watson in der Medizin).
Ja insofern, als und solange Führung formale Spezifika aufweist, die nicht distribuiert sind bzw. zurzeit noch nicht verteilt werden können. Dazu zählen, wie Stefan Röhrborn erwähnt (a.a.O.), arbeitsrechtlich relevante Befugnisse und Regularien, die das hierarchische Prinzip mit ihm eigenen Weisungsbefugnissen, Rechten und Pflichten bis hin zu Haftungsfragen betreffen. Dem gehören auch Aspekte in Verantwortung und Entscheidungserfordernissen zu, die mit der Führung unternehmensüberschreitender, interkultureller, trans- und internationaler Teams einhergehen. Stefan Röhrborn: „So ist je nach Teamzusammensetzung oder Arbeitseinsatz eines Mitarbeiters immer wieder neu zu entscheiden, welche Führungskraft im konkreten Fall für Auswahl und Beaufsichtigung verantwortlich ist. Die disziplinarische Führungskraft oder doch der fachliche Vorgesetzte? Ebenso komplex: Wer darf welchem - eigenen oder fremden - Mitarbeiter Weisungen erteilen hinsichtlich Ort, Zeit und Inhalt der Tätigkeit? Wer überwacht den Mitarbeiter hinsichtlich Inhalt, Qualität und Quantität der Arbeit? Und wenn ein Rechner das Team zusammengestellt hat: Wer verantwortet Auswahlfehler, sollte der Mitarbeiter einen Schaden verursachen und es um Haftung gehen? So geht es munter weiter: Mitarbeiter einer länderübergreifenden einheitlichen Arbeitsgruppe könnten unterschiedlichen Rechtsordnungen unterliegen; Vergütungsunterschiede im Team werfen Fragen auf. Allein auf diese scheinbar banalen Fragen gibt es rechtlich gesehen nicht immer eine eindeutige Antwort. Für die Führungskräfte bedeutet dies künftig in erster Linie die Sicherstellung einer lückenlosen und transparenten Dokumentation aller Prozesse im HR-Bereich und in der Arbeitsorganisation: Vom Verfahren zur Stellenausschreibung und Bewerberauswahl über Einstellung, Auswahl bei der Besetzung einer Arbeitsgruppe über das Monitoring von Leistung und Verhalten der Mitarbeiter bis hin zur Qualitätssicherung und allen Maßnahmen zur Fehlermeldung und -korrektur - überall waltet Bürokratie.“
Ja auch eingedenk verinnerlichter (meist: entlastender) Funktionen von Führung, die sich im Reden über Führung ebenso zeigen wie im Zuschreiben von Verantwortung und Pflichten. Insbesondere:
Nach wie vor werden vornehmlich Führungskräfte adressiert, wenn es um Interaktionskultur mit Beschäftigten sowie um Verantwortungs- bzw. „Schuld“attribution geht: „Führungskräfte müssen….“, und läuft etwas schief, werden Fehler gemacht oder auch: achten Mitarbeiter zu wenig selbst auf ihre Gesundheit und ihr Wohlbefinden, fühlen sich Mitarbeiter zu wenig wertgeschätzt und so weiter, wird Führungskräften mit erhobenem Zeigefinger begegnet.
Diese Zuschreibung geht über Mitarbeiterführung hinaus und reicht bis hin zu Fragen nachhaltiger Unternehmensführung (Reputationsmanagement, Neuorganisation, Schließen von Bereichen, Kündigungen u. dgl.). Aller Rede über postherorisches, postpersonales, demokratisches Führen zum Trotz werden weiterhin umgehend Führungskräfte adressiert, „zur Verantwortung“ gezogen und fungieren als Projektionsflächen für sogenannte Verbesserungsvorschläge in Miteinander und Zusammenarbeit, die sich in Sollens-Sätze, in Normen und Gebote kleiden und Führungskräfte gegenüber Mitarbeitern in eine Fürsorgeverantwortung stecken. Die viel geforderte symmetrische Beziehung bleibt programmatisch und praktisch eine asymmetrische. (Siehe mein Buch: Unternehmen in der Psychofalle. Business Village Verlag.)
Dazu passt, dass im Reden und Schreiben über Führung noch immer Darstellungen von Führungsstilen, -modellen, -methoden dominieren, die Führungskräfte ins Zentrum stellen und die Unterscheidung von Führung und Geführt voraussetzen, notwendig mittransportieren und zementieren. Ein Analogon für Mitarbeiter ist mir nicht bekannt. Das Beharren auf dieser Unterscheidung deutet auf einen hohen Internalisierungsgrad hin sowie darauf, dass die Notwendigkeit der Unterscheidung grundsätzlich akzeptiert ist. Und dies, obgleich Führen und Geführt-Werten seit Jahren als dialogischer, wechselseitiger Prozess beschrieben (normiert) wird.
Führungskräfte werden weiterhin exponiert und dafür zuständig gehalten, dass Unternehmens- und Mitarbeiterführung den jeweils definierten Anforderungen und Bedarfen genügen. Ein aktueller Fund illustriert dies: In der Wirtschaftswoche vom 17.08.2018 findet sich auf S. 94 ein Kurzartikel von Kristin Schmidt mit dem Titel „Visionär statt Diktator“. (Dass der Titel sprachlich schief ist, soll hier nicht interessieren.) Im Zentrum: Führungskräfte und ihr – gemessen an Einschätzungen und Wünschen von Mitarbeitern – fehlerhaftes Selbstbild in Bezug auf ihren Führungsstil, was deshalb als gravierend und verbesserungsbedürftig herausgestellt wird, weil Mitarbeiter nach einem „Chef“ verlangen.
In übersimplifizierender Manier wird die häufig konstruierte Opposition von Führungskräften und Mitarbeitern aufgebaut, verknüpft mit der Rollenverteilung Täter und Opfer und hervorgehoben, was eine „Studie“, eine Befragung von 13 500 Fach- und Führungskräften der Personalberatung Kienbaum und der Stellenbörse Stepstone, herausgefunden hat: Führungskräfte täuschen sich darin, wenn sie meinen, den Stilwunsch von Mitarbeitern mehrheitlich zu erfüllen. Diese wünschen sich nämlich zu 94 Prozent „einen Chef, der als Vorbild dient und Visionen vermittelt. Ebenfalls hoch im Kurs steht die strategische Führung (88 Prozent), gefolgt von der ethischen Variante (84%). Demgegenüber stehen die Einschätzungen von „Angestellten“, „Untergebenen“, die den direktiven Führungsstil als dominant ansehen (54 Prozent), während 29 Prozent der „befragten Angestellten“ ihren „Chefs“ attestieren, transformational zu führen und 9 Prozent meinen, ihr Chef orientiere sich im Alltag an moralischen Werten.
Unabhängig von der wissenschaftlich-empirischen Qualität und Aussagekraft – interessant ist dies: Die Wortwahl der Autorin des Artikels stellt nicht in Frage, dass formale Führung nötig ist und wählt neben dem Begriff „Angestellte“, der nichts über Hierarchie aussagt, Begriffe, die gleichwohl den Status Quo bestätigen. „Führungskräfte“ sind „Chefs“, „Mitarbeiter“ sind „Mitarbeiter“ und „Untergebene“. Haupteinflussmacht und Gesamtverantwortung liegen bei der Führungskraft, beim „Chef“. Dazu wird affirmativ der Geschäftsführer der Managementberatung Kienbaum, Walter Jochmann, zitiert: „Führung nimmt wesentlich Einfluss auf Mitarbeiterzufriedenheit“ und „Für den Erfolg eines Unternehmens sei es essenziell, dass die Personalverantwortlichen die individuellen Bedürfnisse ihrer Angestellten kennen.“
Die Asymmetrie der Beziehung, die herausragende Funktion von Führung und Rangverhältnis werden bestätigt, und zwar mit dem vertrauten Paradigma a) individualisierter Führung, der besonderen Fürsorgeverantwortung von Führungskräften gegenüber jedem einzelnen Mitarbeiter und b) der Täterschaft (Sender), die bei Führungskräften liegt, während Mitarbeiter als Opfer (Empfänger) erscheinen, die dem Führungseinfluss ausgesetzt sind.
Dieses Muster und „Narrativ“ ist offenkundig derartig verinnerlicht, dass Führung auch weiterhin personal besetzt und Führungskräfte die Adresse von „Verbesserungen“ bleiben. Um das Selbstbild den Fremdbildern anzupassen und eine „gesunde Selbsteinschätzung“ zu erlangen, die „der erste Schritt zu besserer Führung“ sei, wird Sebastian Dettmers, Geschäftsführer von Stepstone zitiert, sollten Führungskräfte (nicht: Mitarbeiter!) aus verschiedenen Kreisen Feedback einholen: „Die Studienautoren empfehlen den Führungskräften deshalb, sich regelmäßig von Mitarbeitern, Kollegen und Kunden bewerten zu lassen.“
Bekräftigt wird die traditionale Sicht auf Führungskräfte und Mitarbeiter durch die (übersimplifizierte Klischee-) Skizze von „sieben Führungsstilen“. Die laut Studie gewünschte Transformationale Führung wird beschrieben mit diesen Worten: „Der Chef gibt den charismatischen Führer, die die Arbeit visionär auflädt. So motiviert er Mitarbeite ohne materielle Anreize.“ Strategische Führung obliegt ebenfalls der Führungskraft: „Chefs geben klare Ziele vor und unterstützen die Angestellten konstruktiv auf dem Weg dorthin, aber ohne Mikromanagement.“ Und in der Ethischen Führung gilt: „Vorgesetzte bauen auf Moral und Transparenz, außerdem kümmern sie sich um die persönlichen Belange der Mitarbeiter.“
Neben eklatanten sachlichen Schwächen dieser Skizzen sei zudem nur erwähnt, dass die Ausführungen konträr zur oben erwähnten Gleichheits-, Gleichberechtigungs-, Autonomierhetorik stehen, die sich v.a. an dem selbstverantwortlichen und unternehmerisch tätigen Mitarbeiter als regulative Idee orientiert. (Kritische Beiträge dazu in zahlreichen meiner Publikationen, pointiert in „Unternehmen in der Psychofalle. Business Village Verlag.)
Wann die Nachfrage ihren Adressaten verliert
„In Australien haben Wissenschaftler der La-Trobe-Universität von Melbourne einen Roboter entwickelt, der Personalabteilungen von Unternehmen bei der Auswahl von Bewerbern für einen Arbeitsplatz helfen kann. Die Maschine namens Matilda sieht ein wenig aus wie ein zu groß geratener Reiskocher, hat zwei Augen, einen Lautsprecher und zwei Mikrofone, kann ans Internet und an große Datenbanken angeschlossen werden. Sie soll einem Job-Bewerber binnen einer halben Stunde 76 Fragen stellen, ihn bei den Antworten beobachten, das Minensiel analysieren und Schlüsse daraus ziehen.“ (FAZ 9.2.2017, S. 21 ohne Autornamen: „Das Zeitalter der Roboter bricht an.“)
Zugespitzt: Die Erosion der Beziehungsarchitektur „Führungskraft – Mitarbeiter“ wird mit allen bekannten Implikationen eher aus der technischen Ecke angestoßen (Artificial und Emotional Computing). Leitsätze zu erstellen, wird spätestens dann obsolet, wenn menschliche Zutaten offenkundig bzw. – dank entsprechender Grundprogrammierung selbstlernender Systeme – nur noch spurenhaft in Codes auftauchen bzw. nachweisbar sind und ansonsten Menschen zu Exekutoren errechneter Vorgaben und Entscheidungen werden. Darin werden sie gleich. Dann sind alle gleich(ermaßen degradiert).