Theorie versus Big Data, Probierkultur, Nudge

am Mittwoch, 24 August 2016.

Die Frage

Die folgenden Überlegungen zeigen erste Schritte in eine hoffentlich einsetzende Debatte. Sie entzünden sich an der mehr oder weniger schleichenden, jedenfalls verbreiteten Ersetzung von theoretischer Grundlegung durch Big Data, Probierkultur und Nudge-Praxis. Zu verzeichnen sind bereits Auswirkungen in politischer Gesellschaftslenkung und wirtschaftspolitischen Maßnahmen. Betroffen ist somit auch Führung. Die Grundlogik möchte ich anhand von Führungshandeln in Organisationen, vornehmlich Unternehmen, exemplifizieren. 

Die erkenntnisleitende Frage lautet, inwiefern es sich Führungspraxis auf Dauer leisten kann, auf theoretische Rahmung und damit auf Erklärungen, Verstehen und darauf basierte Gestaltung von Führung zu verzichten und in reinen Pragmatismus abzugleiten. „Anything goes“, proklamierte Paul Feyerabend einst im Rahmen von Erkenntnistheorie, aus dem Feld angewandter psychologischer Modelle ertönte: „Das, was funktioniert, wird getan.“ Man kann die Probierkultur, die sich in Unternehmen ausbreitet, sowie die Verhaltenskonditionierung durch Nudges, als Ausfluss der Konvergenz dieser Haltungen sehen. Probieren und Schubser in die gewünschte Richtung werden durch Daten (Big Data, Smart Data) legitimiert.

Inwiefern das genügt, um Unternehmen und andere Organisationen nachhaltig erfolgreich zu führen, ist eine dringende Frage. 

(Anmerkung: Unberücksichtigt lasse ich in diesen Überlegungen Faktoren, die verdeutlichen, weshalb es dringlich ist, die Frage nach Theorie zu stellen. Etwa dann, wenn man die primäre (Kindheit), sekundäre (Adoleszenz, Bildungsinstitutionen), tertiäre (Beruf) Sozialisation via Digitaler Technologien, Internet, Smartphone und Apps/ Assistenzsysteme, via Games/ Gamification und selbstlernender Systeme (Künstlicher Intelligenz, Emotional Computing) in die Betrachtung einschließt.)

Big Data und Theorie

Der Sieg selbsttätiger Zusammenführung von Daten verschiedener Quellen und Mustersuche scheint besiegelt. Das hat Konsequenzen – wünschenswerte, weniger wünschenswerte und schädliche. Als nicht wünschenswert bis schädlich erscheinen mir Folgewirkungen auf Theorie, was ich am Beispiel von Führung konkretisieren möchte. 

Im Umfeld von Big-Data- und Digitalisierungs-Euphorikern wurde bereits das Ende der Theorie ausgerufen. Empirie und Evidenzbasierung genüge, so heißt es. Empirie meint in diesem Kontext: Eine unüberschaubare Menge an Daten läuft über Programme, die über Korrelationen Muster und Cluster entdecken, die wiederum als Basis von Handlungsmaximen und Interventionen dienen. 

„Im Jahr 2008 prägte Chris Anderson – damals Chefredakteur der Zeitschrift „Wired“ – den Begriff des „Petabyte Age“: Im Angesicht einer alle Gegenstandsbereiche betreffenden, in den „Clouds“ gewaltiger Datenfarmen gespeicherte, zuvor ungekannten Menge digitaler Big Data erschlössen nicht nur Suchmaschinenfirmen und soziale Medien ganz neue Wissensbereiche. Es stehe gar die Googleisierung der gesamten Wissenschaft an – und damit „das Ende der Theorie“. Denn immer feinziseliertere Algorithmen würden, so Anderson, Muster finden und Zusammenhänge erkennt bar machen, auf die kein klassisch vorgehender hypothesengeleiteter Wissenschaftler gekommen wäre: Die computerisierte Suche nach  Korrelationen in Daten könne die Frage nach Kausalitäten und kohärenten theoretischen Modellen ersetzen: „With enough data, the number speak for themselves“, so Anderson.“ (Vehlken, Sebastian: Gibt es bald mehr Antworten als Fragen? In: FAZ 6.8.15, S. 12) 

Exakt dies tun Nummern, Zahlen, Daten eben nicht. Denn sie müssen interpretiert werden. Dazu braucht es Vorannahmen und Fragen, die für jede (menschliche, algorithmisch-maschinelle) Deutung und Auswertung unverzichtbar sind. Grundannahmen, Laientheorien, Glaubenssätze und Überzeugungen fungieren als Schablone, Filter, Brillenglas, um Daten lesen, Muster erkennen zu können. In diesem Sinn ist Sebastian Vehlken zuzustimmen, der zu der Pflicht anhält, sich zu vergegenwärtigen, „was Daten sind, wie sie medientechnisch produziert werden, welchen Verzerrungen sie unterliegen, auf welchen Grundannahmen ihr retrieval beruht – und welche von Software generierten Korrelationen z.B. kompletter Unsinn sein mögen. Computer quantifizieren nur das, was quantifizierbar ist. Und sie berechnen nur das, was im Bereich der Berechenbarkeit liegt.“ Folglich „gilt auch weiterhin, datengetriebene Ansätze mit guten Fragen zu rahmen, die weiter weisen als auf reine Positivitäten: Fragen, die das Quantitative mit dem Qualitativen verbinden.“

Die Dekontextualisierung datenpuristischer Betrachtung braucht weitere Korrektive. Der Blick auf Entstehungs-, Wirkungs- und Verwendungszusammenhänge ist ebenfalls nötig, um zu verstehen, in welchen Hinsichten Daten (Cluster, Korrelationen) was erklären (helfen) können und inwiefern sie welche Voraussagen machen bzw. Gestaltungsempfehlungen geben können. Diese Gesamtleistungen erbringt grundlegend Theorie, durchaus im Verbund mit Empirie.

„Data driven Sciences“ und das Vorliegen voluminöser Datenmengen bewegen sich im Umfeld eines empiristisch-positivistischen, auch pragmatischen Ansatzes. Sie befördern das Missverständnis, dass Daten Informationen und diese Informationen Wissen sind, das gewinnbringend unmittelbar angewandt werden kann. Dabei steht Utilität im Vordergrund: in der Form geldwerter Vorteile („Nützlich ist, was monetarisiert werden kann.“) sowie in der Form von Handlungsanleitungen („Nützlich ist, was effektvoll getan wird.“) Theorie erscheint hier als Wolke, als nebulöses und abstraktes Ideelles, das für die Praxis entbehrlich ist. 

(Anmerkung: Neuerdings erstreckt sich diese Auffassung auf die Notwendigkeit von Strategien. Sie seien angesichts der Schnelllebigkeit und gebotenen Beweglichkeit (Agilität) obsolet. Statt Strategie wird vehement für Inkrementalismus, Muddling Through und adhocratisches Anpassen an veränderte Gegebenheiten, gern verknüpft mit „Disruption“, proklamiert. In diesem Kontext erscheint seit kurzem die Forderung, Führende müssten Ambidextrie realisieren. Diese „Beidhändigkeit“ zielt zum einen darauf, sowohl das Optimieren des Vorhandenen als auch Innovation zu betreiben. Das ist keine Novität. Das Neue ist lediglich, dass Ambidextrie die Verbindung, Parallelität bzw. das Sowohl-als-auch von konventioneller analoger und digital-transformativer Unternehmensführung betont. Die Logik ist alt, der Inhalt ist neu. Die behauptete Verzichtbarkeit von Strategie ist keinesfalls theoretisch oder theoretisch-empirisch fundiert, sondern entspringt bestenfalls Erfahrungen und Vermutungen von Personen, die sich am Zeitgeist des Probierens orientieren, Geschwindigkeit für einen Wert an sich halten und glauben, Überlebensfähigkeit und Nachhaltigkeit von Unternehmen seien ausschließlich gebunden an adhocratische opportunistische Echtzeitanpassung.)

Einer der intellektuell scharfsinnigsten Begleiter digitaler Transformationsphänomene und –prozesse (Internet der Dinge, Industrie 4.0, Gesellschaft 4.0), von Plattform-Revolution und wachsender Internetreligiösität („Solutionism“) ist Evgeny Morozov. Seit Jahren erläutert er unter anderem, inwiefern Informationalisierung, die Verrechnung von quantitativen und qualitativen (z.B. sozialpolitischen) Prozessen, Strukturen, Phänomenen sowie der (Technik-) Glaube, die richtige App sei die Lösung von Problemen, unweigerlich das Ende von Theorie gerade auch in der wirtschaftlichen und politischen Praxis zur Folge haben wird bzw. bereits hat. 

Statt theoretisch geleiteter Fragen, Hypothesen, logisch deduzierter Erklärungs- und Voraussagehypothesen dominieren in praxi auf Utilität geeichte pragmatische Modelle und Methoden. Im Vorhinein theoretisch fundierte, überlegte, reflektierte, projektierte Handlungskonzepte weichen einer konditionalen Logik, die inkremental, agil, disruptiv dem Trial and Error-Verfahren (Probierkultur, Design Thinking) huldigt und auf der Verhaltensebene der verhaltensökonomischen paternalistischen Nudge-Psychologik gehorcht. 

Nudge

Nudge ersetzt Selbstdenken, selbstständiges, eigenverantwortliches, reflektiertes, kurz: verstehen-geleitetes Handeln. Statt auf Verstehen gegründetes Handeln dominiert „geschubstes“ Handeln, ein Handeln, dass vorzugsweise auf Incentives (naheliegende, bequeme Rahmenbedingungen, digital oder via App, Prozessführungs-, Assistenzsysteme, Kollaborations-, Kommunikationstools etc.) antwortet. Man nimmt den Pudding in der Cafeteria nicht, weil er hinter Obst steht und schlecht zu erreichen ist – aber nicht, weil man meint, Obst tue der eigenen Gesundheit besser. Und man definiert in einem Projekt Meilensteine oder formuliert die Dokumentation nicht nach Maßgabe faktischer Erfordernisse, sondern weil das Programm dies vorgibt.

Es gibt weitere Probleme, die auch für Führung Folgewirkungen zeitigen. Harald Staun hat dies – unter Rekurs auf internetkritische Autoren – in seinem Artikel „Wie wir gern leben sollen“ (FAS 31.08.2016) plastisch dargestellt. Die Bundesregierung der Bundesrepublik Deutschland, präziser: das Kanzleramt entschied sich 2014, dem Nudge-Ansatz des Ökonomen Richard Thaler (University Chicago) und des Juristen Cass Sunstein (Harvard) zu folgen. Publiziert haben sie „Nudge“ im Jahr 2008. Das Kanzleramt suchte im August 2014 drei Personen mit „„psychologischen, soziologischen, anthropologischen, verhaltensökonomischen bzw. verhaltenswissenschaftlichen Kenntnissen“ (Staun ebd.). Die Arbeit bestehe darin, die „Entwicklung alternativer Designs von politischen Vorhaben auf der Grundlage qualitativer Situations- bzw. Problemanalysen“ voranzutreiben, offenkundig analog dem britischen „Behaviorial Insights Team“, das der ehemalige britische Premierminister David Cameron nach seiner Nudge-Lektüre 2010 installierte. Verhaltensforscher sollen „Schubser“ (Nudges) konzipieren, die die Adressaten zum gewünschten Verhalten sanft lenken. Dieser sanfte und in der FAZ seit Jahren äußerst kritisch kommentierte „sanfte Paternalismus“ wirkt unmittelbar und unbewusst verhaltensmodulierend. Der Freiraum von Wahl und Entscheidung wird bewusst konditioniert, so dass, Alternativen außerhalb der offerierten Optionen (zumindest bei intuitiven, emotionalen Wahlen) wegfällt.)

Nudge und Big Data

Nudging und der Wegfall bzw. die Abwertung von Theorie haben (u.a.) gemeinsam, dass Handeln dekontextuiert wird. Politisches Agieren im Sinn gesellschaftsgestaltender Arbeit wird reduziert auf ein Arrangement oder „Management individueller Aktionen“ (Staun ebd.). Dieses Management verfolgt einen geheimen Lehrplan (hidden agenda), der im Namen des Gemeinwohls subjektive Entscheidungen lenkt. Dekontextualisierung geht mit Depolitisierung Hand in Hand. Es gibt keine strukturellen oder systemisch bedingten Probleme mehr, sondern nur noch individuelle. „Nicht die falsche Arbeitsmarktpolitik führt zu Arbeitslosigkeit, sondern Trägheit“ und hier setzt Nudging an. „Die einzige Aufgabe für die sich der Staat zuständig fühlt, ist die Optimierung der Entscheidungen seiner schlecht informierten Bürger.“ (Staun ebd.). Das ist eins zu eins auf Unternehmen übertragbar.

Eine weitere Gemeinsamkeit der Konzentration auf Big-Data-Empirie und Nudge liegt in der ideologischen Rahmung und damit in Zielen. Der Begriff des Managens (Handhaben) trifft die Einstellung recht passend. Mit dem Glauben, alles lasse sich verrechnen und damit via App lösen, geht der Glaube an das Im-Griff-Haben einher. Es ist die „Utopie einer perfekt zu managenden Gesellschaft“ bzw. Unternehmen, obgleich das Gegenteil tagtäglich zu beobachten ist. 

Problematisch ist die Enttheoretisierung und Reduktion auf Daten, Informationen, indem der Fokus nur noch auf Pragmatik liegt, die ohne Kausalanalysen und Theoriebildung Handlungsanleitungen gebiert. Gründe, warum etwas wie wo wirkt und in welchen Kontexten, werden nicht mehr gesucht. Das Denken verharrt in der durch Daten aggregrierten Faktizität und entzieht sich der Analyse durch pure Messbarkeit, etwa von sozialen Interaktionen, die via Bewegungs- und Entscheidungsmuster steuerbar sind. Ein so mechanistisches Welt- und früh-behavioristisches Menschenbild zeigt sich in der Idee und Umsetzung von „Social Physics“ von Alex Pentland, Physiker am MIT-Media Lab. 

Führung ohne Theorie

Konsequenz in der Führung: Statt auf (Führungs-) Theorien wird auf praktische Modelle und Konzepte gesetzt. Dass wie bereits tradierten Konzepten und Modellen, wie Oswald Neuberger zeigt, auch den neueren oder neu verkleideten alten die theoretische Basis fehlt, stört immer weniger. Die so genannte Probierkultur hat den Thron bestiegen, zusammen mit purer Pragmatik und dem Geist des Anything goes in Kombination mit Erfolg: das, was wirkt, wird gemacht. Das kann gut gehen (funktionieren) in einzelnen Kontexten. Doch wenn kausale Zusammenhänge unklar sind, wächst mit jedem Probieren das Risiko des Fehlschlags und damit von Mehrkosten, sowohl monetär als auch psychologisch und motivational. (Denn jeder Fehlschlag erzeugt – selbst bei anfänglichem Neubeginn-Enthusiasmus – Frustration. Sobald sich Fehlschläge häufen, wird Veränderung negativ konnotiert, was wiederum Mut und Motivation für Veränderung/ Innovation reduziert.)

Der alleinige Fokus auf Praktikabilität und kontextspezifisches Probieren ist selbst im Fall des Gelingens ein Mangel. In praxi erfahrbar, wenn Modelle/ Konzepte angewandt werden, erhoffte Effekte zunächst wie erwünscht zu wirken scheinen, spätestens indes bei Veränderung von Variablen ausbleiben. Beispiele sind das Dogma des kausalen Zusammenhangs von „guter (wahlweise partizipativer, kooperative, empathischer…) Führung“ und „guten Ergebnissen“, von „demokratischer Unternehmenskultur“ und „unternehmerischem Erfolg“, von „Selbstverwirklichungschancen am Arbeitsplatz“, „motivierter Mitarbeit“ und „Unternehmenserfolg“. Vor einigen Jahren galten selbst „Angst“ oder „Paranoia“ als Bedingung der Möglichkeit für „Unternehmenserfolg“. Gegenwärtig ersetzt durch Spiel und Spaß.

Nutzen von Führungstheorie

Kurz gesprochen, treten Führungstheorien an, zu klären, unter welchen Bedingungen und aus welchen psychologischen, kognitiven, mentalen, sozialen, sozio-kulturellen, wirtschaftlichen Gründen und in welchen Kontexten Menschen sich in welcher Weise führen lassen und führen. Sie erforschen, welche äußeren und inneren Bedingungsgefüge vorliegen müssen, um Erfolg kausal attribuieren zu können. Dies ist ein äußerst kompliziertes, vielleicht unabschließbares Unterfangen, weil Führungstheoretiker es mit Komplexität z tun haben: von Individuen, Gruppen, Unternehmen/ Organisationen und ihrer Interaktion mit der Umwelt, die ihrerseits verschiedene Teilsysteme aufweist, die untereinander interagieren und mehr und weniger auf Führende und Geführte einwirken. Hinzu kommen verschiedene Quellen von Diversität, etwa generative, kulturelle, spirituell-religiöse. Genau deshalb fällt die Landschaft der Führungstheorien vielfältig aus. Es gibt betriebswirtschaftliche, verhaltensökonomische, handlungstheoretische, systemische, kulturwissenschaftliche Führungstheorien, um einige zu nennen.

Warum sich dieser Schwierigkeit widmen, wenn man doch einfach das nehmen kann, was sich in der Erfahrung zeigt? Warum sich nicht mit Modellen und Konzepten begnügen, die auf „Daten“ beruhen?

Eine knappe Antwort lautet: Führungstheorien sind Aussagensysteme, die– Wirkungsbeziehungen bzw. deren Determinanten erkennen und neben Beschreibungen des Status Quo Voraussagen über Wahrscheinlichkeiten machen, welche Art des Führungshandelns in welchen Kontexten mit welchen Anforderungen an die Akteure den gewünschten Erfolg in Aussicht stellen. Theorien ermöglichen zunächst einmal Verstehen. Und da dasselbe Phänomen (z.B. nachhaltiger Erfolg eines Unternehmens) in verschiedenen Kontexten verschiedene Wirkungen zeitigen und aus verschiedenen theoretischen Perspektiven betrachtet werden muss, sind verschiedene Parameter einzubeziehen. 

Beispielsweise führt systemische Theorie nachhaltigen Erfolg u.a. darauf zurück, dass die Akteure am und nicht im System arbeiten, also auf Austauschbarkeit setzen, Wechselbeziehungen, Regeln und andere Bedingungen der Möglichkeit für Erfolg anvisieren, wozu auf individueller Ebene etwa das Erlernen selbstregulierten und –organisierten Arbeitens gehört. Aus handlungstheoretischer Sicht mag nachhaltiger Erfolg vorzugsweise der Empathie der Führenden zugeschrieben werden, während verhaltensökonomische Zuschreibungen primär die Anreize für produktives Arbeiten fokussieren.

Auf theoretischer Grundlage ist es möglich, gezielte Fragen zu formulieren (zu Entstehungs-, Verwendungs-, Wirkungskontext), zu beantworten und schlussendlich Begründungen zu destillieren, die handlungspraktisch in Konzepte, Modelle, Methoden münden. Konzepte und Modelle, als Ableitungen von Theorie, bringen Vorschläge für Handlung und Maßnahmen hervor. 

Theorie, Modell, Methode

Bezogen auf Führung: Insofern Modelle und Methoden eingebettet sind in theoretische Rahmen, stehen sie in einem logischen Ableitverhältnis. Sie geben deduzierte und begründete Anregungen, welche Maßnahmen und Verhaltensweisen Führende systematisch, intendiert und bewusst zeigen , veranlassen oder unterlassen sollten, um die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, dass das jeweils gewünschte Ergebnis eintritt. Modelle und Methoden sind pragmatisch und praktisch orientiert. Metaphorisch gesprochen: Theorien und ihre Annahmen wirken im Hintergrund, während Konzepte, Methoden, Modelle auf der Bühne agieren.

Eine Methode steht für systematisches, nach Regeln und explizierbaren Annahmen planmäßiges Denken und Handeln, das dem Erreichen von praktischen Zielen dient. Eine Methode ist ein Modus des Vorgehens, eine Art Verfahrensanweisung, um Aufgaben einer bestimmten Klasse zu lösen bzw. Ziele zu realisieren. Vereinfacht formuliert: Ausgehend von konkreten Bedingungen, Annahmen und Zielen wird eine Methode gewählt, die beschreibt, mit welcher Folge von Maßnahmen und Schritten das definierte Ziel erreicht wird. (Jede Methode empfiehlt dafür spezifische Werkzeuge.) 

Jeder Theorie entsprechen Modelle und Methoden. Beispielsweise entspricht es der systemischen Führungstheorie, vornehmlich in Begriffen und Modellen von Komplexität (Prozesse, Dynamik, Unüberschaubarkeit, Ungewissheit, Wechselwirkung sowie Eigenlogik, Eigendynamik und Selbstregulation/organisation) zu denken. Entsprechend fallen Modelle und Methoden aus, etwa die Szenariotechnik oder das zirkuläre Fragen als Methode der kommunikativen Klärung. Diametral entgegengesetzt sind etwa die Eigenschaftstheorie der Führung und die Theorie charismatischer Führung. (Dazu vgl. mein Buch: „Unternehmen in der Führungsfalle“, Business Village Verlag.)

Verzichtet man auf theoretische Verankerung, tut man etwas, von dem man nicht weiß, warum „es“ wie funktioniert – und in welchen Kontexten eher bzw. weniger oder gar nicht. Der Wissensmangel hat einen Dominoeffekt. Denn Wissen baut eine Richtschnur auf, die u.a. dabei hilft, zu entscheiden, welches Verhalten im Führen und Geführtwerden zieldienlich, angemessen, weiterführend ist. Wissen befördert Autonomie: im Wahrnehmen, Beurteilen und Handeln. Weiß eine Führungskraft, warum sie in Kontexten welchen Typs eher empathisch-geduldig auf Mitarbeitende eingehen soll als sachlich-nüchtern, oder in

Kontexten welchen Typs es dem (Team-, Unternehmens-) Erfolg eher dient, wenn sie Kreativitätsräume bietet, dann kann sie Erfolgsaussichten systematisch erhöhen.

Der Verzicht auf Theorie riskiert, die Frage nach dem Sinn(zusammenhang) von Führungspraktiken unbeantwortet zu lassen. Theorien begnügen sich nicht mit reiner Empirie. Sie weiten den Verstehens- und damit Aktionsraum, diversifizieren ihn, ermöglichen differenziertes Handeln, während Big-Data-Anhänger auf Korrelationen starren, diese in Faktizität übersetzen, häufig mit dem Impetus eine Wahrheit gefunden zu haben, und anschließend – in der Regel nach Maßgabe von Behavioral Economics – intervenieren, um Verhalten zu modulieren. 

Unabhängig von dem Umstand, dass Korrelationen nur mit der Hilfe von theoriegeleiteten Fragen gelesen werden können, dominiert der Glaube, dass sich hinter Wechselbeziehungen kausale Relationen verbergen, die theoriefrei aufgedeckt und verwendet werden können und über spezifische Kontexte hinaus gültig sind. 

(Anmerkung: Hier sind nicht Laien- oder Alltags“theorien“ gemeint. Zwar haben auch sie die Funktion, Verstehen, Erklären und Vorrausagen zu ermöglichen, allerdings ohne allgemeingültige Überprüfungskriterien. Was sie von wissenschaftlicher Theorie unterscheidet, sind nicht nur die Gültigkeitskriterien, sondern auch die Verlässlichkeit von Erklärungen und Vorhersagen.) 

Wer auf Theorie verzichtet, verzichtet auf Verstehen, Perspektivenvielfalt im Verstehen und Erklären, Rekonstruierbarkeit und Vorhersehbarkeit, auf differenzierte Handlungskapazität. 

Eine der Pointen des Verzichts auf Führungstheorie liegt darin, sich um theoretisch-sinnhafte Verankerung von Führungsempfehlungen, die die Schwelle intuitiver oder emotionaler Plausibilität überschreiten, keine Gedanken machen zu müssen. Es genügt gleichsam das spontane Nicken. In diesem Sinn ist es folgerichtig, dass in einer Zeit, in der nach Führungstipps gesucht wird, weniger Theorien als praktisch anwendbare Methoden nachgefragt und angeboten werden. Zwar lässt sich über deren Wirksamkeit trefflich streiten, und auch Albernheiten kommen stolzen Hauptes in der Verkleidung neuer Erkenntnisse daher, etwa „deep work“ (konzentriertes Arbeiten) oder das „Begleitete Lernen“ (schlicht eine über Zuhören und offene Fragen charakterisierte Gesprächsführung mit der Rolle der Führungskraft als Lehrerin). 

Es ist die fast pubertär anmutende Begeisterung und Gläubigkeit, Agilität und Probieren seien die einzigen brauchbaren Antworten, um nachhaltig und erfolgreich wirtschaften zu können. Beide befördern die Verachtung für Theorie. Jedoch: Je weniger Theorie, desto mehr muss probiert werden, und je mehr probiert wird, desto größer die Wahrscheinlich von Zusatzkosten (Fehlleistungen, Korrekturmaßnahmen, Umschwünge etc.). 

 

Dr. Regina Mahlmann
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