Weiterbildung/ De-Psychologisierung/ Contra Gamification
Weiterbildner bitte aufwachen!
Bisher folgen Weiterbildner vor allem den Hirten der digitalen Euphorie. Die folgenden Überlegungen sollen sie motivieren, anderen „Vorbildern“ zu folgen und Digitales klug, zielführend, verantwortungsvoll gemäß ihrem Auftrag einzusetzen.
Weiterbildner und Generation C (Connected):Bitte aufwachen! Mythen, Realitäten, Aufgaben einer konstruktiven Weiterbildung. Weiterbildner sollten aufwachen.
Ich richte mich an weibliche und männliche Berater, Trainer, Coaches, Referenten, die in Unternehmen und anderen Organisationen tätig sind. Aufwachen sollten sie aus der Trance des Mainstreams, aus Affirmation und Opportunismus rund um Ansprüche und Fremd-Selbstbildnisse „der“ Digital Natives, wahlweise Generation Y, Game, Connected.
Warum sollten sie aufwachen, sich die Augen reiben, an die Stirn greifen und kritisch fragen, nach-, über- und vordenken? Sie sollten es, a) angesichts ihrer politischen, gesellschaftliches Leben mitgestaltenden Wirkung, b) sofern sie ihre beratende, trainierende, coachende Tätigkeit verantwortungsvoll ausüben möchten gegenüber den Klienten, Einzelnen wie Gruppen, und im Rahmen des Kontextes, in dem sie ihren Auftrag erfüllen.
Die Trance: Digital Natives seien im Unterschied zu allen vorherigen „Generationen“ - besonders gut ausgebildet - kosmopolitisch - medienkompetent - multitaskingfähig - selbstorganisationsfähig - vernetzt – und können daher vernetzt denken und handeln - voller Potenzial - (positiv konnotiert) fordernd und wählerisch - (positiv konnotiert) auf Selbstverwirklichung aus - selbstbewusst und „alles hinterfragend“ - revolutionär (revolutionieren Führung von Menschen und Unternehmen).
Diese Glaubenssätze werden als Fakten gehandelt. Die mediale Permanent-Wiederholung dieser anbiedernden Überzeugungen genießen Wahrheitsstatus.
Die wenigen kritischen Stimmen aus Unternehmen und von Persönlichkeiten wie Jaron Lanier, Nicholas Carr, Jonathan Ziitrain, Sherry Turkle, Evgeny Morozov, Roland Murgerauer, Martha Nussbaum, Manfred Spitzer, Norbert Bolz, Gyung-Chul Han werden zwar von dem einen oder anderen gelesen und gehört, und der eine oder andere Artikel, das eine oder andere Interview wird publiziert. Die Resonanz bleibt bescheiden, und wenn die Kritiker nicht beschimpft oder verbal attackiert werden, dann zumindest mit einem mitleidigen Blick betrachtet und als Ewiggestrige, als Unpostmoderne, geistig Hintengebliebene oder Alarmisten denunziert.
Die grundsätzliche Auseinandersetzung mit ihren Argumenten und empirischen Daten verhält sich umgekehrt proportional zur Wiederholung des Hohelieds auf die Segnungen digitaler Technologie, mobiler Nutzung und Gamification, die die digital-mobil Eingeborenen zu einer überlegenen menschlichen Art machen, hie und da mit Neuroenhancern optimiert und mit Aussicht auf, wenn schon nicht erwünschte, so doch akzeptierte, willkommene transhumanistische Perfektionierung. Kritiker, Warner, systematisch argumentierende Intellektuelle bleiben bedauerlicherweise weitgehend unter sich.
Selbst im Bereich der Bildung erschallende Rufe, die zu Nachdenklichkeit anregen, finden kaum Resonanz. Das gilt nicht nur für schulische Pädagogik, sondern auch für den Bereich inner-, außerbetrieblicher Weiterbildung.
Die Ignoranz um kritische Aspekte der skizzierten Trends und Moden und mit ihnen der Glaube daran, dass es für jedes Problem, für jede Aufgabe eine App gibt bzw. geben wird, die dann aus der Bredouille hilft, sind in diesem Milieu recht verbreitet. Und das, obwohl gerade Weiterbildner zu jenen gesellschaftlichen (Branchen-) Gruppen gehören, die eingedenk ihrer politischen und kulturellen Auswirkungen (Bildung als kulturell-politische Praxis) herausragend genau zuhören und hinsehen, mitdenken und disputieren sollten.
Jene, die das tun, beschäftigen typischerweise unter anderen (!) diese Implikationen und Folgerungen bezüglich
- der Verinnerlichung algorithmischer Realitäten für Denken, Wirklichkeits- und Möglichkeitssinn
- des Daueronlinedaseins und Sich-Bewegesn in technisch vorgegebenen Rhythmen und Semantiken
- der Lernbiographien, kognitiven Fertigkeiten, intellektuellen Reichweiten, persönlicher (Wahl-) Freiheit, Selbst-Bestimmung
- der Veränderungen in Haltung und Handlung unter der Bedingung (noch: fast, bald: totaler) permanenter Überwachung (social networks, plattformen etc.;
- sehr drastisch: Dave Eggers RomanThe Circle; entsprechendes Sachbuch: The Cube)
- des „alten“ und „neuen“ Verständnisses von Bildung, Kompetenz und Didaktik - der Vorstellung von und Fähigkeit zu Demokratie und gesellschaftlicher Gerechtigkeit
- der Anspruchshaltung gegenüber anderen Menschen und des individuellen Lebensentwurfs - der zunehmenden Affirmation von Vorstellungen rund um die Ideologie „totaler Transparenz“ (vgl. Chul….), Singularität und Immersion (vgl. Jaron Lanier, Evgeny Morozov)
- der wachsenden Unfähigkeit, allein zu denken und zu sein (vgl. Sherry Turkle)
- und damit des Trends hin zu Kollektividentitäten: Ich bin viele, weil es ein singuläres Ich im Sinn der Aufklärung/ Moderne nicht gibt; auch das Ich der multiplen Eigen-Iche trifft es nicht mehr; vielmehr meint Kollektividentität am ehesten das G.H. Mead`sche Me oder den „Schnittpunkt sozialer Kreise“ eines Georg SimmeL:
In dem Beitrag von Andrian Kreye: Diktatur der Perfektion in der Süddeutschen Zeitung vom 2.4.13, S. 11 findet sich eine knappe Übersicht über die bekanntesten kritischen Argumente: Bisher seien Netzkritiker als Kulturpessimisten beschimpft; deren bisheriger Schwachpunkt nach Auffassung von Andrain Kreye in der Beschränkung auf der Analyse von Risiken und Nebenwirkungen lägen:
- Nicholas Carr: The Shallows und Schirrmachers Payback „führten den Beweis für den intellektuellen Sinkflug der digitalisierten Gesellschaft mit den Erkenntnissen der Hirnforschung“;
- Laniers Essay Digital Maoism untersuchte die destruktive Macht der digitalen Masse mit dem Furor der Politikwissenschaft; angefügt seien die generalistischer angelegten Essays Gadget und Wem gehört die Zukunft?;
- Sherry Turkle erforschte in Alone Togother die Vereinsamung in sozialen Netzwerken mit Hilfe der Soziologie; angefügt sei hier: Sherry Turkle wendet empirisch-soziologische Forschungsdesigns an, liest sie mit psychoanalytischer und sozialpsychologischer Brille und deckt nicht nur von den betroffenen jungen Menschen selbst empfundene Vereinsamung auf, sondern weitere, das Kognitive sowie das Erleben von Natur/ Natürlichem als Kreatürlichem (virtuelle Tiere sind sauberer als echte) und „analoger“ Mitmenschlichkeit betreffende Eigentümlichkeiten wie etwa das Vorziehen von SMS und anderen schriftlichen Nachrichten vor stimmlicher, weil diese einen „zwinge“, so eine Teenager, sofort und direkt zu antworten;
- Jonathan Ziitrain erklärte die gesellschaftlichen Auswirkungen in The Future of the Internet mittels technischer Details - Hinzugefügt seien Untersuchungen zu Sprache und Lesen, etwa Maryanne Wolf und Stanislav Dehaene (Neurowissenschaftler) sowie zum Kompetenzbegriff (Murgerauer).
Nach A. Kreye bringt erst Evgeny Morozov eine neue Qualität in den Diskurs der kritischen Stimmen. Jede der Kritiken verweise immer auf die Segnungen in verschiedenen Lebensbereichen wie Gesundheit, Bildung und feiere die Lösungskompetenz: Das Netz, so die Botschaft, wird für jedes Problem eine Lösung bringen – und zwar durch die Reduktion allen Geschehens und Agierens auf Information, die ihrerseits das Material der heute politisch und wirtschaftlich tonangebenden Unternehmen (Silicon Valley & Co).
Dem entgegen stehe das Buch des knapp 30-jährigen Evgeny Morozov: „To save everything, Click here: The folly of Technological Solutionism“. Der Autor übt hier – wie in seinen anderen Büchern und Kurzessays auch - Ideologiekritik der digitalen Kultur.
Solutionism ist eine Diktatur der Perfektion, die ihren Ausgang im Silicon Valley nimmt und unhaltbare, ungeprüfte Allgemeingültigkeits-Ansprüche und Heilsversprechen der digitalen Industrie und ihrer Propheten ausposaunt. (In seinem ersten Buch: The Net Delusion beleuchtet E. Morozov „das Internet“ in dem Gewand seiner Gefahr für nicht erwünschte Revolutionen, Entwicklungen, Folgewirkungen und wendet sich gegen die positive Mystifizierung und Identifizierung „Internet = gut“ und gegen den naiven Glauben, „das Internet“ „bringe“ Demokratie als eine Herrschaft des Volkes, in dem jeder einzelne mündig dafür sei.
Der Autor stellt – einfacher formuliert – heraus, dass der Hammer nicht nur zum Einschlagen eines Nagels für ein Bild, sondern auch zum Töten von Menschen benutzt werden kann. Das, was der Rezensent A. Kreye noch im April 2013 für paranoid hält, hat sich knapp ein Jahr später bewahrheitet – und zeigt, wie hilfreich es ist, sich mit digitalen Möglichkeiten und Optionen auszukennen (wie z.B. E. Morozov, dem er die Paranoia angedeihen lässt) und auch mit Akteuren und deren Mind Set vertraut zu sein (wie es Evgeny Morozov ist und wie es Jaron Lanier, der zudem als Informatiker bei Microsoft arbeitet, unzweifelhaft herausragend schildert).
Schlagworte wie Openness (Transparenz), Disruption (Zerstörung von Konventionen), Social (Pflicht der Vernetzung), Quantified Self (ständige elektronische Selbstbeobachtung und Fremdüberwachung), Immersion (Eintauchen in virtuelle Welten, die die Grenze zwischen analoger und digital hergestellter Realität verwässern), Singularität (Zusammenlaufen von technischer und psycho-physischer Identität via Technologie), Big Data (Datenkombinationen mit dem Ziel, Vorhersagen zu machen und diese als Fakten behandeln, so dass „prophylaktisch“ gehandelt werden kann, etwa im Fall von Krankheiten und Kriminalität) – euphorische Formeln einer entpolitisierenden, kontrollierenden, Verhalten kanalisierenden, Ansprache und Zuschreibungen individualisierenden Industrie, die versucht, alle Realität auf Information zu reduzieren (herausgearbeitet von Evgeny Morozov) und unter dem Vorzeichen von Entertainment, Perfektibilität, Sicherheit, Hygiene in Seele, Geist, Leib, Demokratisierung gesellschaftliches Leben seiner Differenzen und Freiheiten zu berauben und gleichzeitig zu verschleiern, dass es nur um eine technisch versierte bzw. kapitalkräftige Elite geht, die – vermittelt über digitale Medien, Gadgets, Apps & Co - diktiert, was die anderen zu denken, zu fühlen, zu tun und zu lassen haben (v.a. J. Lanier und E. Morozov).
Herrscher dort, Beherrschte hier. Befehl und Gehorsam, lediglich verschleiert durch Entertainment, vermeintliche Sozialität und Sicherheitsversprechen; Brave new World (Aldous Huxley) lässt ebenso grüßen wie The Circle (Dave Eggers). Eine Utopie für die einen, eine Dystopie für die anderen – und für Weiterbildner mindestens ein Anlass, einen fundamentalen Diskurs zu eröffnen.
Weiterbildner (Berater, Personaler, Trainer, Coaches), die ihre Arbeit nicht zuletzt aufgrund des Verbreitungsgrades als politisch-kulturelle Praxis begreifen, sollten endlich aufwachen aus der Trance und dem Opportunismus als Anpassung an diese Entwicklungen mitsamt den dazu gehörigen Gadgets, Tools, Plattformen und Netzwerken, mit den Micro-Learning und anderen schnipselartigen und game-basierten Lehr-/Lernformaten, die noch abseits lernpsychologischer/theoretischer Untersuchung liegen; Ähnliches gilt für Inhalte.
Die Begründungen für den Imperativ der Anpassung haben die Tenor: „Die Jungen denken und handeln eben ganz anders als die Immigrants, und um sie zu erreichen, müssen wir uns dem anpassen und das nutzen und so lehren, dass wir sie erreichen können.
Und das heißt eben: Wir müssen uns, Weiterbildung, Lehr-Lernkontexte neu erfinden und uns dabei an dem orientieren, womit die Jungen aufgewachsen sind und was sie gut finden: von den Geräten über e-, micro-, mobile-learning, Verknüpfung mit Audiovisuellem bis zu Gamification und in der Logik von MOOCs hierarchie-, lehrerfreies, auf Selbstorganisation und Vernetzung setzendes Lernen.“ Dieses Mantra ist aus mehreren Gründen anzuzweifeln. Zu diesen gehört der Mangel einer Begründung dafür, wieso es gerade diese (vermeintlich neuen) Lehr-Lernformen sind, die Unternehmen, Organisationen, Gesellschaft zukunftsfähig machen soll – noch dazu in einem Umfeld, das konkurrierende, wenn nicht gar rivalisierende Modelle verteidigt (z.B. Asien, besonders China, Japan, Südkorea) und folglich in einem Umfeld, in dem auch diese konträren Bildungskulturen mindestens wirtschaftlich erfolgreich sind (nach heutigen Maßstäben).
Zudem ist bis dato keinesfalls erhärtet, wissenschaftlich unterlegt, belastbar, dass – pointiert gesprochen – Gamification, Games, mobile micro-learning sich als Lehr-Lernformen eignen, um Menschen in die Lage zu versetzen, wissend, reflektiert, differente Perspektiven berücksichtigend und Argumente zu ersinnen, Schlussfolgerungen durchzuführen, Entscheidungen zu treffen – und das auch noch allein. Kurz, inwiefern über Wissen zu verfügen, explizites Wissen und Können parat zu haben, selbst Durchdachtes in eine Diskussion einzubringen und eigene Entscheidungen zu fällen – nach Maßgabe des vorher Gesagten, inwiefern das also gefördert wird durch Spiel- und andere Digitalsozialisation, steht durchaus in Zweifel. Solange Weiterbildner sich noch Kernfacetten von Aufklärung und Moderne verpflichtet fühlen, sollten sie ihren Opportunismus aufgeben zu Gunsten einer verantwortbaren Kombination aus Opposition (etwa: Auf das Selbstdenken kommt es noch immer an!“) und Opportunismus (Unter bestimmten Bedingungen können gamifizierte Anwendungen hilfreich sein.“).
Ich sehe Weiterbildner (u.a.) in besonderer Verantwortung, weil sie – im Gegensatz zu ihrem gegenwärtigen lämmerhaften Hinterherlaufen - bildungspolitisches Gewicht auch in die andere Richtung, als Avantgarde haben können. (Man denke an die Reformpädagogik des 17. Und 18. Jahrhunderts.).
Die Wirkung von Bildung/Weiterbildung strahlt in die Gesellschaft hinein, weil auch Weiterbildner (nicht nur Kindergärtner, religiöse Milieus, Pfadfinder u.ä., primärschulische Sozialisation etc.) mit Personen und Gruppen arbeiten. In dieser Arbeit setzen sie Akzente, definieren Inhalte und Methoden und wirken folglich über den Lehr-Lernkontext hinaus prägend.
Deshalb gestalten Weiterbildner immer auch politisch: Sie eröffnen, fördern, be- oder verhindern Möglichkeiten bzw. Optionen. Bereits aus diesem Grund sollten Weiterbildner den Intellekt und Mut haben, gegen den Strom zu schwimmen und stereotyp wiederholte und in der Regel nicht begründete Voreingenommenheiten überprüfen und ihnen widersprechen – mit dem Ziel, Weiterbildung auf belastbare Füße zu stellen und Korrekturen anzubringen, um zu Zukunftsfähigkeit (um ein populäres Wort zu nutzen) der Gesellschaft beizutragen.